Fast täglich wird die deutsch-russische Nähe in Sachen Öl und Gas kritisiert. Der Vertrag von Rapallo, der am 16. April 1922 zwischen dem Deutschen Reich und den Sowjets (die UdSSR wurde erst im Dezember 1922 gegründet) an der italienischen Küste bei Genua unterzeichnet wurde, begründete ebenfalls ein Einvernehmen der beiden Staaten in puncto Wirtschaft.
Herr Leonhard, war der Vertrag von Rapallo ein Freundschaftsvertrag, wie immer wieder zu lesen ist?
Freundschaftsvertrag ist die falsche Bezeichnung. Es handelt sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, den zwei ideologisch denkbar unterschiedliche Staaten aus einem speziellen Kalkül heraus schlossen. Gemeinsam war den Führungen in Berlin und Moskau der Eindruck, Außenseiter der internationalen Politik zu sein und von der politischen Nachkriegsordnung ausgeschlossen zu sein.

Was lag diesem Kalkül zugrunde?
Der sowjetischen Seite ging es darum, die diplomatische Isolation zu überwinden, in die man sich seit der Oktoberrevolution 1917 und dem Bürgerkrieg befand. Auf deutscher Seite handelte es sich um den Versuch, eine politische und wirtschaftliche Isolation zu beenden, und auch militärische Beschränkungen zu unterlaufen, die der Versailler Vertrag 1919 vorsah. Beide Staaten waren nach 1919 keine Mitglieder des Völkerbunds und in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Das brachte sie zusammen.
Auf deutscher Seite war dieser Vertragsabschluss allerdings keine ausgemachte Sache . . .
Der Vertrag war in Berlin hoch umstritten. Zumal Reichspräsident Friedrich Ebert reagierte kritisch auf den Abschluss, weil man fürchtete, dass Deutschland so Frankreich und auch Großbritannien vor den Kopf stoße. Dagegen standen diejenigen, die sich für den Vertrag stark machten, und damit eine dezidiert antipolnische Politik verfolgten, die sich bis zum Hitler-Stalin Pakt von 1939 fortsetzen sollte.
Deutsche und Russen betrachteten Polen als Störfaktor?
Beide Länder verband nach Versailles die Gegnerschaft zum neuen polnischen Staat, der Ende 1918 wesentlich aus Gebieten des Kaiserreichs wie des Zarenreichs entstanden war. Außenminister Walter Rathenau hatte die politischen Kosten einer deutsch-russischen Annäherung durchaus im Blick.
Aber der Vertrag muss vor dem Hintergrund der damals stattfindenden Wirtschafts- und Finanzkonferenz von Genua gesehen werden. Dort scheiterte der Versuch, das Problem der deutschen Reparationen zu lösen. Während die Vertreter Berlins von der in ihren Augen mangelnden Konzessionsbereitschaft enttäuscht waren, erfüllten sich auch nicht die Hoffnungen der sowjetischen Seite, die die Streichung der erheblichen Altschulden des Zarenreichs gefordert hatten.
Der Misserfolg von Genua ebnete den Weg nach Rapallo?
Er half jedenfalls bei der Übereinkunft. Wie umstritten der Vertrag aber war, zeigte sich, als rechtsextreme Terroristen Rathenau nur wenige Monate später, im Mai 1922, ermorden. Dahinter stand auch der Vorwurf, Rathenau habe Deutschland in Rapallo an Sowjetrussland ausgeliefert.
Anderseits sahen Nationalisten wie der Reichswehr-Chef Hans von Seeckt die Chance, in Russland neue Waffentechnik erproben zu können . . .
Deutschland erlebte seit dem November 1918 einerseits eine extreme ideologische Polarisierung bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Konflikten zwischen Links und Rechts. Andererseits entwickelten viele Offiziere ein pragmatisch-zynisches Kalkül mit dem Ziel, die militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrags zu unterlaufen.
Jenseits der ideologischen Unterschiede erlaubte die Kooperation mit Sowjetrussland, in Russland deutsche Piloten und Panzerbesatzungen auszubilden und im Gegenzug der Roten Armee Zugang zu modernen Waffentechnologien einzuräumen. Dass ideologische Differenz jedenfalls keine unüberwindliche Hürde darstellte, sollte sich erneut 1939 im Hitler-Stalin-Pakt zeigen, als die Neuaufteilung Ostmitteleuropas, die Revision der Ordnung von 1919, die entscheidende Brücke in den Verhandlungen bildete.
Spielt das auch in der Gegenwart für die deutsche Außenpolitik bis in die letzten Monate eine Rolle?
Jedenfalls gehört Rapallo in die lange deutsch-russische Beziehungsgeschichte, die jetzt mit dem Krieg in der Ukraine zu Ende kommt. Und diese Geschichte begann nicht erst mit der Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr.
Auch im Vertrag von Rapallo ging es um konkrete Ölgeschäfte. Deutschland sollte Anlagen liefern, um die Ölfelder von Baku zu erschließen, während in Deutschland Tankstellen und Lager errichtet werden sollten, um russisches Öl und Benzin zu vertreiben. Die Verflechtung der beiden Länder über Rohstoffe hat eine sehr lange Tradition.
Sieht so aus, als habe Deutschland 1922 einen Absatzmarkt gesucht . . .
Das war ein wichtiges Motiv für den Vertrag, denn die westlichen Siegermächte begrenzten die deutschen Exporte. Die Industrie suchte nach Absatzmärkten, zumal man in Berlin erkannt hatte, dass das deutsche Wirtschaftspotenzial entscheidend war, um die Nachkriegsdepression zu überwinden und den politischen Status zu verbessern. Solange westliche Märkte verschlossen blieben, war Sowjetrussland ein wichtiger Kandidat.
Rathenau baute indes auf die Briten . . .
. . . doch genau diese Rechnung ging nicht wirklich auf, denn Großbritannien konzentrierte sich auf das Empire und stand der aggressiven französischen Politik gegenüber Deutschland skeptisch gegenüber. Die USA waren in Genua nicht offiziell vertreten, weil Frankreich eine Erleichterung der deutschen Reparationen ablehnte. Von einer politischen Fortsetzung der Kriegsallianz konnte also keine Rede sein. Erst Rapallo erzwang eine gewisse Wiederannäherung, ohne die Frankreich wenige Monate später kaum das Ruhrgebiet besetzt hätte.
Deutschland hat also draufgezahlt?
Die deutsch-russische Annäherung wirkte als Schock – daher der bis heute in Paris und London etablierte Begriff „Rapallo“ als Ausdruck für eine deutsche Schaukelpolitik zwischen Ost und West. Angesichts der nach 1918 großen Angst vor einer bolschewikischen Weltrevolution in Frankreich und Großbritannien enthielt Rapallo ein enormes Bedrohungspotenzial – im Westen, wie im Osten, denn der Vertrag enthielt eine starke antipolnische Komponente.
Reichskanzler Wirth sprach von einer Chance, die Bildung eines polnischen Staates zu revidieren, den er wie viele deutsche Politiker als eine „Anomalie“ begriff. An diese Politik konnte Hitler nach 1933 anknüpfen.
Eine Politik der relativ Großen, die die Mittel- und Kleinstaaten ignoriert . . .
Bis heute ist der Blick von außen auf die deutsche Außenpolitik von der Angst geprägt, dass die Sonderbeziehung zwischen Berlin und Moskau historisch darauf gründete, den Raum zwischen den beiden Ländern – Polen, die baltischen Staaten, Tschechien, Weißrussland oder die Ukraine– zu einer Art Verfügungsmasse zu degradieren, einer Zone von Staaten minderer Souveränität.
Dieses Gefühl erklärt die kritischen Reaktionen auf die als zögerlich wahrgenommene deutsche Politik im Ukraine-Krieg in vielen mittelosteuropäischen Staaten, zumal in Polen. Eine erfolgreiche deutsche Ostpolitik – wie die von Willy Brandt – nahm auf diese Empfindlichkeiten immer Rücksicht. Der Blick auf Rapallo ist jedenfalls für die Gegenwart enorm lehrreich.