Fürchtet die Schweiz einen terroristischen Anschlag? Die jüngsten Diskussionen zu den neuen Antiterrorgesetzen im Nationalrat der Schweiz könnten den Anschein erwecken. Dort haben die Eidgenossen einen entsprechenden Gesetzesentwurf einen entscheidenden Schritt vorangetrieben – im Herbst steht die endgültige Abstimmung aus, um das Gesetz zu verabschieden.
In der Botschaft des Schweizer Bundesrats, im Namen des ehemaligen Bundespräsidenten Ueli Maurer und Bundeskanzler Walter Thurnherr, wird deutlich, worauf die Gesetzgebung abzielt: „Das vorliegende Bundesgesetz über polizeiliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus will das bestehende polizeiliche Instrumentarium außerhalb eines Strafverfahrens verstärken.“ Doch was harmlos klingt, hat es in sich.
Schärfere Instrumente gegen Terrorismus
So können die vorgesehenen Maßnahmen „vor einem Strafverfahren, nach Beendigung des Strafvollzugs, unter Umständen aber auch ergänzend zu strafprozessualen Ersatzmaßnahmen zur Anwendung kommen“, heißt es in dem Entwurf. „Ziel der neuen polizeilichen Maßnahmen ist es, eine zunehmende Hinwendung zur Gewalt zu verhindern“, schreiben die Verfasser. Es gehe darum, „Lücken des gegenwärtigen Rechts im Umgang mit terroristischen Gefährdern zu schließen.“
Konkret sollen Gefährder, also Menschen, die noch keine Straftat begangen haben, von denen aber möglicherweise terroristische Gefahr ausgeht, engmaschig überwacht werden dürfen.
Genau da sieht Kastriot Lubishtani das erste Problem: Der Doktorand beim Zentrum für Strafrecht der Universität Lausanne hält die Definition des sogenannten „Gefährders“ für unscharf. Im Gesetzesentwurf heißt es: „Als terroristischer Gefährder gilt eine Person, wenn aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird.“
Schwammige Definitionen
„Der Begriff setzt also keine Straftat voraus, lediglich Indizien“, moniert der Rechtsexperte. Die Bundespolizei könne fast alle der geplanten Maßnahmen unmittelbar umsetzen – ohne jegliche juristische Kontrolle und „auf Basis eines unklaren Begriffs“, sagt Lubishtani. „Damit bekommt eine Verwaltungsbehörde einen zu großen Manöverspielraum“, macht er deutlich.
Das könnte verheerende Folgen haben: Selbst Justizministerin Karin Keller-Sutter gestand ein, dass die neuen polizeilichen Maßnahmen auch schuldlose Menschen treffen könnten. Mehrere UNO-Sonderbeauftragte kritisierten das Gesetzesvorhaben in der Schweiz genau deshalb scharf.

Unter anderem Amnesty International spricht deutliche Worte: „Die vom Bundesrat präsentierten Gesetzesentwürfe zur Verhütung und Bekämpfung von Terrorismus sehen massive Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte vor“, warnt die Schweizer Vertretung der Menschenrechtsorganisation.
Das neue Gesetz sieht vor, dass die Polizei Gefährdern eine Meldepflicht, ein Verbot, das Land zu verlassen, das Einziehen des Reisepasses, ein Kontaktverbot oder das Verbot, sich in einem bestimmten Gebiet aufzuhalten, auferlegen können. Elektronische Fußfesseln sollen eine lückenlose Überwachung ermöglichen, wo sich der potenzielle Gefährder aufhält, Handydaten darf die Polizei dann auch abfischen. Als schärfste Maßnahme soll auch ein Hausarrest möglich sein. Das alles soll möglich sein, bevor überhaupt ein Strafverfahren eingeleitet wurde.
Artikel zu Präventivhaft wieder gestrichen
Der Bundesrat will den Hausarrest, den sie „Eingrenzung auf eine Liegenschaft“ nennt, für drei Monate von der Polizei anordnen lassen können, der bis zu zwei Mal verlängert werden können soll.
Das Schweizerische Institut für Rechtsvergleich stellt in einem Ländervergleich fest: „In Deutschland scheint es weder auf Bundes- noch auf Landesebene separate Regelungen zum präventiven Hausarrest zu geben.“
Vorab hat der Bundesrat, also die Regierung der Schweiz, ein „Rechtsgutachten zum Umgang mit gefährlichen Personen“ erstellen lassen. Andreas Donatsch ist Juraprofessor, Rechtsanwalt und regelmäßig als Gutachter tätig. In diesem Fall kommt er zu einem eindeutigen Urteil: „Die Eingrenzung von Gefährdern auf eine Liegenschaft, mithin der Hausarrest, stellt grundsätzlich einen Freiheitsentzug dar.“
Im Lauf der parlamentarischen Debatte war sogar von einer Präventivhaft (“gesicherte Unterbringung“) die Rede, also eine Art Sicherungsverwahrung, bevor überhaupt eine Straftat begangen worden ist. „Das wäre weder mit der Bundesverfassung und den internationalen Menschenrechten vereinbar gewesen, noch mit den Grundprinzipien eines demokratischen Staats“, betont Lubishtani. Im Bundesrat wurde der umstrittene Artikel zur Präventivhaft jedoch wieder gestrichen, nachdem die FDP zusammen mit dem links-grünen Lager sich dagegen aussprach.
Maßnahmen auch bei Kindern geplant
Die Zwangsmaßnahmen gelten allerdings nicht nur für Erwachsene: Sie sollen auch bei Kindern ab zwölf Jahren angewandt werden dürfen. Der Hausarrest soll auch bei 15-Jährigen angewandt werden können. Menschenrechtsorganisationen kritisierten den Gesetzesvorschlag deshalb scharf.
Philipp Jaffé ist Professor am Zentrum für die Rechte von Kindern an der Universität Genf. Er sagt dem SÜDKURIER: „Was mich ärgert, ist, dass in dieser Debatte der Eindruck geschaffen wird, es gehe ein Risiko von Kindern in der Schweiz aus.“ Tatsächlich wisse er von „maximal einem halben Dutzend Kindern“, auf die das Gesetz zutreffen könne.
Kritisch sieht Jaffé aber auch das Verfahren, das der Bundesrat anstrebt: „Hier soll ein Polizist darüber entscheiden, ob von einem Kind eine Gefahr ausgeht. Diese Leute sind darauf aber gar nicht spezialisiert“, hebt er hervor und verweist auf Jugendrichter und Sozialarbeiter, die im Umgang mit Kindern geschult seien.
„Stattdessen soll einem Kind die Freiheit geraubt werden auf Grundlage eines Verdachts“, moniert er weiter. „Es ist schockierend, dass ein Kind, das keine Straftat begangen hat, solchen Maßnahmen unterworfen werden kann“, findet Jaffé.
Gesetzgebungsprozess kaum mehr aufzuhalten
Noch ist das Gesetz nicht beschlossen. Doch Jaffé fürchtet, dass der Entwurf, den der Nationalrat bereits angenommen hat, im Herbst seinen Weg in ein Gesetz findet – und sogar noch verschärft werden könnte. „Ich bin gespannt, was sich bis dahin noch tut“, sagt er.
Feststeht: Weil die Schweiz anders als Deutschland kein Verfassungsgericht besitzt, ist das Gesetz, einmal beschlossen, nur noch schwer zu kippen. Das Bundesgericht „kann das Gesetz bestenfalls kritisieren, aber nicht außer Kraft setzen“, erklärt Lubishtani. Grundsätzlich können in der Schweiz aber gegen alle Beschlüsse des Parlaments Referenden angestrengt werden, sodass das Volk über sie abstimmen und sie gegebenenfalls kippen kann.
Islamophobie als Auslöser?
Doch woher rührt die Angst der Schweizer und der offenbare Drang, vorhandene Gesetze zu verschärfen? Anders als Frankreich, Großbritannien, Spanien oder Deutschland war die Schweiz bisher nie Ziel eines terroristischen Anschlags. Jaffé sagt: „Die patriotische Antwort lautet: weil wir so gute präventive Maßnahmen haben, die das verhindern konnten.“
Die kritischere Analyse des Professors: Jaffé glaubt, dass eine Vermengung verschiedener Ängste dazu führte: Sie reichen von Islamophobie, der Erfahrung radikalisierte Jugendlicher, die nach Syrien in den Krieg zogen und der latenten Angst, eines Tages könnte ein Gefährder mit dem Potenzial, einen Anschlag zu verüben, übersehen werden.
Dieses Risiko soll künftig mit den neuen Maßnahmen eingedämmt werden. „Wenn es um Terrorismus geht, ist die Neigung, die Grenzen der Gesetze auszudehnen, groß. Aber die Grundprinzipien unserer Nationen müssen eingehalten werden – vor allen Dingen vom Gesetzgeber“, sagt Lubishtani. Und: „Der Terrorismus ist eine zu schwerwiegende Angelegenheit, um sie einzig in den Händen der Polizei zu lassen.“
Warnung vor Missbrauch
Amnesty International und die NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz fordern das Schweizerische Parlament auf, von den präventiv-polizeilichen Maßnahmen im Polizeigesetz (PMT) komplett abzusehen. „Gemäß der Vorlage soll eine Person einzig aufgrund der vagen Annahme, dass sie – in der Zukunft – eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen könnte, von der Polizei mit einschneidenden Maßnahmen belegt werden können“, kritisiert Amnesty International.
„Wenn man den Behörden die Macht gibt, die Freiheiten einer Person drastisch einzuschränken, nicht aufgrund dessen, was sie getan hat, sondern aufgrund dessen, was sie in Zukunft tun könnte, öffnet man dem Missbrauch Tür und Tor“, fürchtet die Menschenrechtsorganisation.