„Sie bereut sehr vieles.“ Es sind die Worte von Sarah O.'s Anwalt Ali Aydin. „Sie war sehr, sehr jung und hat falsche Entscheidungen getroffen“, ergänzt der Pflichtverteidiger aus Frankfurt. Mehr will er dem SÜDKURIER nicht sagen. Er ist an sein Mandat gebunden. Sehr jung – das bedeutet in Sarahs Fall 15 Jahre.
So alt ist sie, als sie im Oktober 2013 dem Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Konstanz den Rücken kehrt und mit einer gefälschten Reiseerlaubnis ihrer Eltern in die Türkei reist, von dort über die Grenze nach Syrien. Ihr Handy wird noch in der Nähe von Aleppo geortet. Ihr Vater meldet sie als vermisst. Sechs Jahre später wird sie vor einem deutschen Gericht stehen.
Die erste, die nach Syrien auszieht
Sarahs Geschichte verbreitet sich wie ein Lauffeuer: Sie ist die erste Jugendliche, die ausreist, um sich dem IS anzuschließen. Und erst jetzt bekommt der Verfassungsschutz Wind von ihr. Damals war es rein rechtlich schwierig, Minderjährige zu beobachten. Eine von insgesamt 50 Islamisten aus Baden-Württemberg, zu denen dem Verfassungsschutz mit Sitz in Stuttgart Hinweise vorliegen: Sie alle sind ausgereist in Richtung Syrien oder Irak.
Die wenigsten sind zurückgekehrt. Etwa ein Dutzend der Dschihadisten sind bei Kampfhandlungen oder Selbstmordattentaten ums Leben gekommen. Sarah O. überlebt. Vier Jahre sind vergangen, als sie über die Grenze in die Türkei flüchtet.
Im Schlepptau ihre drei Kinder, die sie mit einem IS-Kämpfer bekommen hat. Die türkische Behörden greifen sie auf, halten sie mehrere Monate fest, bevor sie sie in ein Flugzeug nach Düsseldorf setzen und der deutschen Justiz ausliefern. Seit September 2018 sitzt sie in einem Gefängnis in Nordrhein-Westfalen in Untersuchungshaft.
Prozessbeginn in Düsseldorf
An diesem Mittwoch beginnt ihr Prozess vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf. Es ist der Beginn einer Aufarbeitung: wie sich eine Schülerin, die Bikinis trug, Zigaretten rauchte und Alkohol trank, plötzlich in einer Niqab verhüllt, islamistische Propagandaschriften studiert und dem Ruf der Scheinprediger nach Syrien folgt.
Ismael S. ist ein IS-Kämpfer aus Köln, der schon als Jugendlicher einsaß und schon damals islamistische Motive zeigte. Damals war er ein prominenter Salafist auf Facebook. Auch er reist 2013 nach Syrien aus, gemeinsam mit seinem Bruder. Sarah heiratet Ismael nach islamischen Recht mit 15 Jahren. Sie nennt sich fortan Amatul‘ Aziz, bekommt drei Kinder.
Was war geschehen? Den Lehrern von Sarah dürfte der Wandel seiner Schülerin nach jenem Sommer 2013 aufgefallen sein: Sarah wurde zwar muslimisch erzogen. Doch nachdem sie in den Ferien eine islamische Schule in Algerien, woher ihr Vater stammt, besucht hatte, kehrte sie verändert zurück. Strenggläubig war sie nun, suchte über das Internet Kontakt zu deutschen Salafisten.
Schweigsamer Schulleiter
Schulleiter Jürgen Kaz gibt sich schweigsam. Auf die Frage, ob er als Zeuge aussagen wird im Prozess, antwortet er: „Könnte sein“. Es läge auf der Hand, schließlich gehört er zu den wenigen, die die Radikalisierung der Jugendlichen praktisch mit ansahen. Sarah trägt eine Niqab und sogar Handschuhe, doch die Schule unternimmt nach Informationen vom Landesverfassungsschutz nichts.
„Es hat damals keine Intervention gegeben, auch aus Angst“, sagt Benno Köpfer, Leiter der Analysegruppe Extremismus und Terrorismus. Er sieht die große Aufgabe in der Sensibilisierung. Auch der Lehrer. „Wann hört Islam auf, wann beginnt die Radikalisierung?“ Heute gibt es Beratungsstellen, Fortbildungen. Damals waren die Lehrkräfte wohl überfordert.
Schulleiter Kaz deutet an, nicht viel sagen zu können. Die Mitschüler von Sarah haben inzwischen Abitur gemacht, die Kollegen, die Sarah unterrichteten, „gibt es kaum noch“. „Wir reden hier von einem Menschen, den wir schon lange nicht mehr kennen.“
Veränderte Sarah
Die Sarah von damals interessiert sich plötzlich massiv für den Islam – oder das, was sie dafür hält. Kurz vor ihrer Ausreise besucht sie eine Veranstaltung in Winterthur, im Hotel Töss treffen sich die Salafisten der Schweiz, heißt es.
Es soll eine Benefizveranstaltung für Syrien sein, organisiert von der deutschen Gruppierung Ansaar International, die Sarah endgültig zur Ausreise motiviert. Es ist jenes Jahr, in dem Syriens Machthabar Baschar al Assad die rote Linie überschreitet, als er Giftgas einsetzt. Die internationale Gesellschaft kann sich nicht zu einer direkten militärischen Intervention entscheiden. Zurück bleibt ein Nährboden für Extremisten. Ihr Mantra: Wenn es um Muslime geht, sieht der Westen weg.
Kontakte zur Salafistenszene der Schweiz
Die junge Konstanzerin, die im Stadtteil Petershausen lebte, beginnt dogmatische Schriften durchzuarbeiten: „Was die jungen Leute bekommen haben, waren Produkte einer politischen Ideologie“, betont der Leiter der Abteilung Internationaler Extremismus und Terrorismus, Herbert Müller.

Sarah hat in jener Zeit auch Kontakt zur Schweizer Salafistenszene, taucht in der berüchtigten Winterthurer Moschee An‘Nur auf. Dort radikalisierte sich auch ein Singener IS-Kämpfer, der später starb. Doch es ist erst der Auszug nach Syrien eines Geschwisterpaars aus dem Winterthurer Stadtteil Töss, der die Behörden schließlich unter Zugzwang setzt.
Die Stuttgarter Behörde erfährt erst nach Sarahs Ausreise von ihrer Radikalisierung. Auch weil die Schweizer Behörden in ihrem Handeln eingeschränkt sind – ohne Terrorverdacht sind kaum Maßnahmen wie Abhören oder das Mitlesen von Handydaten möglich.
Wohl auch deshalb bekamen die deutschen Behörden zunächst nichts mit. Doch selbst wenn: Eine Gefährderansprache, ein Passentzug – all das kann umgangen werden, macht Müller deutlich. „Es gibt Fälle, in denen die Ausreise mit gestohlenen Pässen von Verwandten klappte“.
Ambivalenter Vater?
Aber auch Sarahs Vater gehört in dieses Puzzle. Er war es, der Sarah auch ein Stück weit gewähren ließ, deutet man beim Landesverfassungsschutz an. „Es gibt Hinweise, dass er ambivalent war“, heißt es dort verklausuliert. Sarahs deutsche Mutter ist offenbar psychisch krank und vor allem mit sich selbst beschäftigt. Ihre Tochter findet in den Rufen der Dschihadisten eine neue Lebensaufgabe.
Die Moschee wird erst 2017 geschlossen, nachdem die Vermieterin den Mietvertrag nicht mehr verlängern will. Eingekeilt zwischen Autowerkstätten, Bahngleisen und einem Einkaufscenter trafen sich hier Wanderprediger mit „vulnerablen Jugendlichen“, wie es Urs Allemann von der Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention Winterthur umschreibt. Sein Arbeitsplatz ist eine Konsequenz aus der Winterthurer Salafistenszene. Sarahs Fall kennt er nicht, er hat erst 2016 seine Arbeit aufgenommen.
Damals fehlt der Stuttgarter Behörde von mehreren Seiten wichtige Informationen – seitens der Schule, dem Schweizer Nachrichtendienst, aber auch der deutschen Behörden aus anderen Bundesländern. Die föderale Struktur stößt in diesen Fällen an ihre Grenzen, wie später auch der Fall Anis Amri zeigen wird.
Kein gehirngewaschenes Opfer
Als Sarah ausreist, ist es schon zu spät. Sie will ihre Rolle erfüllen, postet auf Facebook, wie ihr Tagesablauf aussieht: „Schlafen, essen, schießen, Vorträge anhören.“ Die Gehirnwäsche wird fortgesetzt. Dennoch trägt Sarah die Verantwortung für ihr Handeln – so zumindest sieht es der Verfassungsschutz. „Sarah hat gezeigt, dass sie nicht nur ein Opfer ist, sondern auch eine Täterin“, betont Köpfer.

Sie war es, die laut Anklage Jesidinnen in einem Haus als Sklavinnen hielt, dass seinen Besitzern weggenommen worden war. Sie war es, die Wach- und Polizeidienste für den IS ausführte, sich an der Waffe ausbilden ließ. Und sie war es, die den Terror des sogenannten Islamischen Staats bewusst unterstützte. Der Prozess wird dennoch ein schwieriger werden. Ihr nachzuweisen, was sie getan hat, dürfte die größte Herausforderung in dieser Verhandlung sein.