Der Anruf kommt am Sonntagmittag: Am Folgetag werden vier Vollzeit-Erzieherinnen fehlen, sie sind krank. „Da muss ich gar nicht mehr rechnen“, sagt Isabel Schlögl, Geschäftsführerin Kindertageseinrichtungen bei der Verrechnungsstelle für katholische Kirchengemeinden, zuständig für Konstanz. „Ich weiß genau, wie viele Ganztags- und Krippengruppen ich dann schließen muss. Alle betroffenen Eltern rechtzeitig zu erreichen, ist die nächste Herausforderung.“
Solche Szenarien sind kein Einzelfall, immer wieder müssen Kitagruppen in der Öffnungszeit reduziert oder zeitweise ganz geschlossen werden. Grund dafür ist der akute Mangel an Erzieherinnen und Erziehern. Obwohl die Stadt Konstanz zehn spanische Fachkräfte holte und Personal aus der Ukraine und anderen Ländern nachqualifizierte, ist die Betreuungslücke weiterhin groß.
Um der als „Kitastrophe“ bezeichneten Krise ein Stück weit zu begegnen, machten sich 120 Vertreter der Stadt, der Einrichtungen aller Träger, Erzieher und Eltern bei einem Zukunftstag im März 2024 viele Gedanken über mögliche Lösungen. 50 Personen arbeiteten weiter daran, ein Jahr später liegen die umfangreichen Ergebnisse vor. „Danke an alle Beteiligten, wie offen sie über Veränderungen nachgedacht haben“, sagt Sozialbürgermeister Andreas Osner.
Manches davon kostet kein Geld und soll sofort umgesetzt werden. Dazu zählt das Konzept „10 für 10“. Gemeint ist, dass die Betreuungszeit um zehn Prozent gekürzt wird, dafür aber zehn Prozent mehr Kinder aufgenommen werden. Der Personalstand soll gleich bleiben.

Konkret könnte das bedeuten: Eine dreigruppige Kita mit 60 Plätzen und 48 Wochenstunden Betreuung reduziert diese auf 43,2 Stunden und kann dadurch sechs zusätzliche Kinder im VÖ-Bereich (verlängerte Öffnungszeit) aufnehmen, das sind zwei Kinder pro Gruppe. Noch deutlicher wird der Effekt bei einer großen Einrichtung mit 110 Plätzen, die künftig durch Reduzierung der Öffnungszeiten um fünf Wochenstunden elf zusätzlichen Kindern einen VÖ-Platz geben könnte.
Und was machen Familien, denen das zeitlich nicht mehr reicht? Dazu sagt Rüdiger Singer, Abteilungsleiter Jugendhilfeplanung im Sozial- und Jugendamt: „Man muss lange suchen, um andere Kommunen zu finden, die 50 Wochenstunden Betreuung anbieten. Wir gehen runter vom Deluxe-Paket auf Normalniveau.“
Außerdem bräuchten viele Familien keine Betreuung bis 17 Uhr, müssten aber den Ganztag buchen, weil andere Modelle nicht ausreichen. Das bestätigt Dania Nikisch, Leiterin des Kinderhauses Chérisy: „Am stärksten nachgefragt ist die verlängerte Öffnungszeit. Unser Auftrag ist es, die Arbeitszeit der Eltern abzudecken. Wenn Kinder bis 17 Uhr in der Kita sind, bringt es den Eltern mehr Flexibilität, aber nicht alle arbeiten so lange.“

Zehn Einrichtungen sollen vorangehen
Dennoch ist den Verantwortlichen bewusst, dass es immer Familien geben wird, die die volle Betreuungszeit brauchen. „Deshalb soll das 10-für-10-Konzept auch nicht überall umgesetzt werden, sondern zunächst in zehn Einrichtungen unterschiedlicher Träger ausprobiert werden“, sagt Alfred Kaufmann, Leiter des Sozial- und Jugendamts.
Ein angedachtes Startdatum ist der 1. Januar 2026. „Wir nehmen den Eltern nicht den Ganztag weg“, betont Kaufmann. „In Konstanz gibt es dann immer noch 26 Ganztagseinrichtungen, die ihre Zeiten nicht strukturell kürzen.“ Das Projekt soll, falls es umgesetzt wird, zwei Jahre lang evaluiert und anschließend neu bewertet werden.

Nicht alle Eltern finden die Idee gut
Doch nicht alle Eltern sehen in der Idee einen Kompromiss zwischen Familien, die künftig weniger Betreuungszeit bekommen, und solchen, die noch nie einen Platz erhielten. „Schon wieder trifft es uns Eltern, weil wir uns nicht wehren können“, lautet die Kritik von Konstanzer Familien. Alfred Kaufmann „kann die Unzufriedenheit total nachvollziehen“, wie er sagt. Dennoch gibt er zu bedenken: „Ständig Gruppen zu schließen, ist auch keine Lösung.“
Für Isabel Schlögl ist das Konzeptpapier ein Schritt aus der Handlungsunfähigkeit: „Diese Hilflosigkeit wollen wir doch alle nicht! Lasst uns einfach mal was ausprobieren. Wenn es nicht funktioniert, lassen wir es!“, sagt sie.

So sieht es auch Julia Landig, 39 Jahre, zweifache Mutter. Sie war von Notfallschließungen betroffen und meint: „Wenn die Betreuung damit verlässlicher gestaltet werden könnte, wäre eine Kürzung der Betreuungszeit in den Randstunden, vor allem am frühen Vormittag, für unsere Familie in Ordnung. Denn Unsicherheit ist für alle Beteiligten zermürbend.“
Größere Gruppen sind keine Option
Könnte man, statt die Zeiten zu kürzen, nicht auch die Gruppen größer machen? So wie es andere Bundesländer vorleben? „Das geht zu Lasten der Qualität“, mahnt Alfred Kaufmann. „Wir sind stolz darauf, dass wir hier so hohe Standards haben.“
Das bestätigt Isabel Schlögl: „Alle Beteiligten haben hoch engagiert über Lösungen nachgedacht und hatten dabei immer die Qualität und die Kinder im Kopf. Wenn wir den Betreuungsschlüssel verschlechtern, will bei uns niemand mehr arbeiten.“
In Konstanz seien die Gruppengrößen in der Theorie ohnehin schon mehr als ausgereizt, so Kaufmann. „Doch die Zahlen auf dem Papier sind das eine, die mangelnden Fachkräfte das andere.“ Heike Kempe vom Vorstand des Gesamtelternbeirats (GEB) der Konstanzer Kitas sieht die Nöte und betont: „Wir finden es super, dass sich ein so umfassender und strukturierter Prozess entwickelt hat, und vor allem, dass er trägerübergreifend stattfindet.“
Dem Kita-GEB sei bewusst, „dass sich unter den aktuellen Rahmenbedingungen keine Lösungen finden lassen, die allen Beteiligten vollständig gerecht werden“. Dennoch sei wichtig, dass Ideen aus dem Papier wirklich umgesetzt würden, trotz der angespannten Haushaltslage der Stadt. „Unsere Haltung ist klar: Kinder sind keine Kostenstelle, sondern unsere wichtigste Investition in die Zukunft!“, schreibt Kempe.