Das Virus ist wieder da. Bundesweit schießen die Infektionszahlen nach oben, ein zweites Mal müssen sich die Bürger auf Einschränkungen einstellen. Falls jemand meinen sollte, die Corona-Maßnahmen in Deutschland seien übertrieben oder gar diktatorisch, sollte er einen Blick in die Nachbarländer werfen. In Frankreich hat die Regierung den Gesundheitsnotstand erklärt und in Paris und acht weiteren Städten nächtliche Ausgangssperren verhängt. Portugal ruft den landesweiten Katastrophenfall aus. Auch die Briten trifft es erneut hart, pro Tag werden im Königreich rund 20 000 Menschen positiv auf Corona getestet. In ganz Europa heißt es: Zurück auf Los!

Die zweite Welle ist da

Die zweite Welle der Pandemie steht somit nicht bevor – sie ist da. Oder, wie ein Virologe es kürzlich ausdrückte: Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist zwölf. Zwar ist Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern bisher beneidenswert glimpflich durch diese Prüfung gekommen. Doch die Aussicht, die Torturen des Frühjahrs erneut auf sich zu nehmen und möglicherweise ein einsames Weihnachtsfest zu feiern, deprimiert und zermürbt viele. Ein Großteil der Bundesbürger steht hinter der Corona-Politik von Bund und Ländern, sagen Umfragen. Aber wie lange? Stimmungen können sich wandeln.

Welche Lehren zieht Merkel aus der ersten Welle? Zweifel sind angebracht

Umso wichtiger wäre es nun, Lehren aus der ersten Welle zu ziehen, die Fehler des Frühjahrs zu vermeiden und das Virus künftig mit passgenaueren Konzepten zu bekämpfen. Wurden alle Lektionen gelernt? Zweifel sind angebracht. Die Kanzlerin und ihre Minister setzen auf die alten Antworten. Sie lauten: Rollladen runterlassen, das öffentliche Leben herunterfahren, das menschliche Miteinander einfrieren. Vieles davon ist unvermeidlich. Vieles weiß man inzwischen aber besser.

Daher reicht es nicht aus, erneut pauschale Kontaktbeschränkungen zu verhängen, ohne jede Rücksicht auf Nebenwirkungen. Zu oft treffen die Einschränkungen die Falschen, ruinieren ganze Branchen und treiben Menschen in Einsamkeit und Depression. Der Streit um das Beherbergungsverbot zeigt, wie wenig die Politik dazugelernt hat. Es untersagt Hotels, Reisende aus Risikogebieten ohne Vorlage eines Tests aufzunehmen, selbst wenn die Zimmer desinfiziert werden, Gäste und Bedienungen Mundschutz tragen und alle Abstandsregeln eingehalten werden. Dagegen ist es erlaubt, in der gleichen Stadt privat unterzukommen, mit den Gastgebern zu feiern, zu trinken und fröhlich Viren auszutauschen.

Das könnte Sie auch interessieren

Warum die Corona-Leugner eine notwendige Debatte ersticken

Solche Beispiele unlogischer Vorschriften gibt es viele. Tragischerweise sind es gerade die Corona-Leugner, die die notwendige Debatte darüber ersticken: Mit Zeitgenossen, die die Seuche für eine Erfindung von Bill Gates halten, gibt es nichts zu diskutieren. Beifall aus dieser Ecke will niemand. Das ersetzt nicht die Auseinandersetzung über Risiko-Abwägung, Verhältnismäßigkeit und die richtige Strategie. Rechtfertigen steigende Infektionszahlen eine neue Vollbremsung für Wirtschaft und Gesellschaft? Warum sind sie der Maßstab? Warum nicht Erkrankungen, Todesfälle oder die Zahl der freien Intensivbetten?

In einer Demokratie wie der unseren gehört der Streit darüber in die Parlamente. Dort ist er bis heute nicht angekommen. Viele Corona-Vorschriften, die an die Grundrechte der Bürger rühren, beruhen nicht auf Bundestagsbeschlüssen, sondern auf Verordnungen des Berliner Gesundheitsministeriums. Selbst elementarste Entscheidungen fallen weder im Bundestag noch in den 16 Landtagen, sondern in diskreteren Runden – in den Videokonferenzen des Kanzleramts beispielsweise, wo Hausherrin Merkel mit den Länderchefs bisweilen fragwürdige Kompromisse aushandelt.

Das könnte Sie auch interessieren

Eine Frage des Vertrauens

Noch vertraut die Bevölkerung darauf, dass die Entscheidungen richtig und unumgänglich sind. Die Politik sollte alles dafür tun, dass es dabei bleibt: Eindämmen lässt sich das Virus nur, wenn die Bürger in ihrer breiten Mehrheit bereit sind, ihren Teil dazu beizutragen. Sie tun dies nur, wenn sie die Maßnahmen einsehen – so wie ein Patient, der bittere Medizin schluckt, weil er sich von ihr Heilung erhofft.

Weltweit gibt es kein Land, das mit einer laxeren Therapie besser gefahren wäre. Wer es versuchte, bezahlte es mit höheren Todeszahlen in den Altenheimen wie Schweden oder er verhängte die Einschränkungen eben später – und dann umso härter. Dem Virus freie Bahn zu lassen, ist keine Alternative. Aber eine schlüssige Corona-Politik blickt bei allen notwendigen Einschnitten auf drohende Begleitschäden, wägt ab, setzt Prioritäten. Einen zweiten Lockdown kann sich Deutschland nicht leisten. Vermeiden lässt er sich nur, wenn die Bevölkerung Disziplin wahrt und die Politik die Menschen mitnimmt. Es liegt an uns allen.