Herr Gysi, Sie sehen seit 20 Jahren praktisch unverändert aus. Wie machen Sie das bloß?

Erstens habe ich irgendwann abgenommen und halte das Gewicht, das ist wichtig. Zweitens mache ich folgende Sportarten, wenn ich dazu komme: Ich fahre Rad, ich wandere, ich schwimme, ich spiele Tischtennis und eine Woche im Jahr laufe ich Ski-Abfahrten, und zwar blaue, rote und schwarze Pisten.

Sie haben ja einen vollen Terminkalender. Ihr Büro sagt, für dieses Jahr sind Sie ausgebucht. Wie kommt das?

Das liegt zum einen an meinen Büchern, da gibt es viele Veranstaltungen. Und dann hat das Interesse an mir ziemlich zugenommen beim Mittelstand. Ich bin im politischen Beirat des Bundesverbands der mittelständischen Wirtschaft.

In unserer Gesellschaft wird ja alles von der Mitte bezahlt – von den mittleren Einkommen und vom Mittelstand. Wir machen die Mitte kaputt! Der Mittelstand hat in mir einen Bündnispartner. Auch Leute wie Banker, die früher Geld dafür gegeben hätten, dass es mich nicht gibt, sind jetzt neugierig und laden mich ein.

Und jetzt bringen Sie denen linke Politik bei?

Ich versuche denen, meine Sicht zu erklären. Ich bin ja der Auffassung, dass der Mittelstand nicht mächtig genug ist in unserer Gesellschaft, die großen Banken und Konzerne aber zu mächtig. Das wirkt sich bei den Steuern aus. Der Mittelstand bezahlt ehrlich Steuern, die haben auch kaum Tricks. Den Großen werden Wege gezeigt, wie sie drumherum kommen.

Sind Sie eigentlich teuer als Redner?

Nein. Ich schlage nie etwas vor. Wenn mir etwas angeboten wird, nehme ich das und melde das natürlich. Außer in meinem Wahlkreis: Da nehme ich nie einen Cent für Veranstaltungen.

Gysi als Gastredner beim Markdorfer Neujahrsempfang am 13. Januar.
Gysi als Gastredner beim Markdorfer Neujahrsempfang am 13. Januar. | Bild: BUESCHE,JOERG

Lassen Sie uns politisch werden. Reden Sie noch mit Sahra Wagenknecht?

Wir haben viele Gespräche geführt, bevor sie ihr Bündnis gegründet hat. Seither nicht mehr, aber wir grüßen uns.

Sind Sie sauer auf Sie? Sie hat die Linke um den Fraktionsstatus gebracht.

Es ist ihr gutes Recht, eine neue Partei zu gründen. Mein Problem ist die Mitnahme der Mandate. Das kriegt sie moralisch nicht gerechtfertigt. Die Mitglieder meiner Partei haben den ganzen Wahlkampf gemacht und bezahlt. Das finde ich von allen zehn Abgeordneten, die gegangen sind, nicht anständig. So sind wir jetzt fraktionslos. Wir mussten alle Mitarbeiter entlassen – die sind vielleicht wütend auf Sahra!

Interessant finde ich die Forsa-Umfrage zu den drei anstehenden Landtagswahlen. Da kommt ihr Bündnis auf vier Prozent. Also was da geschrieben wurde von 20, 30 Prozent, das ist das Potenzial. Das hatten wir auch immer: 20 Prozent konnten sich vorstellen, uns zu wählen, sie haben‘s bloß nicht getan! Zwischen Potenzial und Realität gibt es einen großen Unterschied.

Sie macht ja so eine Mischung: AfD-Position bei Flüchtlingen, Wirtschaftspolitik wie Ludwig Erhard und Sozialpolitik ein bisschen wie wir. Der ehemalige Bürgermeister von Düsseldorf, Thomas Geisel, hat bei der Parteigründung aber gesagt: Weg vom Bürgergeld, zurück zu Hartz IV. Ich weiß auch nicht, was das werden soll. Das ist alles noch ein bisschen wirr.

Sie glauben, dass sich Wagenknecht verrechnet?

Ich glaube nicht, dass sie einziehen in den Bundestag 2025. Das Schicksal meiner Partei, der Linken, hängt wiederum davon ab, ob sie es schafft einzuziehen. Dabei werde ich ihr helfen. Wenn wir es schaffen, haben sie die Krise überstanden. Wenn nicht, dann geht‘s bergab.

Da waren sie noch in einer Partei: Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi 2018 beim Bundesparteitag der Linken in Leipzig.
Da waren sie noch in einer Partei: Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi 2018 beim Bundesparteitag der Linken in Leipzig. | Bild: Britta Pedersen, dpa

Sie brauchen als nächstes den Gruppenstatus. Und einen Vorsitzenden. Werden Sie sich da in den Dienst stellen?

Ja, ganz bestimmt! Nein, das mach ich natürlich nicht! Da muss es einen Weg nach vorne geben. Es ist aber tatsächlich nicht so leicht, jemanden zu gewinnen.

Dass Sahra Wagenknecht aus dem Stand auf ein solches Potenzial bekommt, ist schon beachtlich. Was hat die Linke da falsch gemacht?

Ich kann Ihnen folgende Schwächen bei der Linken schildern: Erstens gab es viel zu wenig Aussprache zwischen den Alten und den Jungen. Das gilt zweitens auch für die Mitglieder in Ost und West. Drittens gab es bei uns eine ungeheure Selbstbeschäftigung. Dadurch fühlten sich die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr angesprochen. Viertens gab es ein Denunziationsklima. Dagegen kämpfe ich ganz entschieden.

Ich kenne das ja, die größte Krise hatten wir im Dezember 1989, da standen wir am Abgrund – und das haben wir gemeistert. Jetzt sind wir in einer anderen Krise und das können wir auch meistern. Und zwar dadurch, dass wir nicht die Partei der 1000 kleinen Dinge sind, sondern uns auf fünf Fragen konzentrieren: Reale Friedenspolitik, deutlich mehr soziale Gerechtigkeit, einschließlich Steuergerechtigkeit auch für die Mitte der Gesellschaft, ökologische Nachhaltigkeit in sozialer Verantwortung, die Gleichstellung von Frau und Mann und die Gleichstellung von Ost und West. Punkt. Das sind unsere Themen, nüscht anderes! Wenn wir uns darauf konzentrieren, haben wir eine Chance.

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Und das kriegen Sie durchgesetzt gegen die Bewegungslinke?

Wir arbeiten daran. (lacht)

Warum hat die Linke den Osten an die AfD verloren?

Weil sie nach der Vereinigung mit der WASG glaubte, jetzt kommt die Sternstunde in Bayern, in Baden-Württemberg und in NRW. Das war ein leichter Irrtum! Deswegen haben sie den Osten vernachlässigt.

Wir hatten früher so fantastische Rentenanträge, 17 namentliche Abstimmungen habe ich veranlasst. An alle Gruppen haben wir gedacht, da waren wir so gut. Das gab‘s in den letzten Jahren zu wenig. Das haben wir jetzt verstanden. Der Osten kriegt wieder einen anderen Stellenwert.

Aber reicht das noch aus, um der AfD Paroli zu bieten?

So schnell kriegst du das nicht korrigiert.

Die AfD könnte bei den anstehenden Landtagswahlen stärkste Kraft werden, womöglich gibt es einen Ministerpräsidenten Höcke. Befürchten Sie, dass es so weit kommen wird?

Das wäre schon ein bisschen das Ende unseres Landes. So weit dürfen wir es nicht kommen lassen. Die CDU kann je nach Ergebnis der Wahlen vor der enormen Schwierigkeit stehen, entscheiden zu müssen, ob sie Richtung AfD oder Richtung Linke geht. Das kann die Union fast zerreißen. Und dann hätten wir auch so unsere Schwierigkeiten: Die Länder sind für Bildungspolitik zuständig, und wie wir uns da mit der CDU diesbezüglich verständigen sollen, weiß ich noch nicht.

Gysi ist einer der profiliertesten Köpfe seiner Partei.
Gysi ist einer der profiliertesten Köpfe seiner Partei. | Bild: Bernd Von Jutrczenka, dpa

Wobei solche Kleinigkeiten müssen ja eigentlich zurückstehen hinter dem Ziel, Höcke zu verhindern.

Ich will gleiche Chancen für Kinder – das ist keine Kleinigkeit. Aber wir können natürlich nicht ernsthaft der Union sagen: Geht lieber zur AfD. Punkt.

Die AfD schmiedet mit Identitären zusammen Deportationspläne. Hat Sie die Nachricht überrascht?

Nein, ich hatte von Anfang an zur AfD eine völlig klare Meinung. Die spielen nur demokratisch zu sein, solange sie eine Minderheit sind. Sobald sie die Macht haben, werden sie das alles vergessen. Ich weiß auch, was Linke dann für ein Schicksal haben und so weiter.

Geschichte wiederholt sich nicht direkt, aber ansatzweise schon. Die Ampel sollte sich lieber nicht darauf konzentrieren, was die AfD stark macht, sondern darauf, was sie selbst falsch macht.

Sind Sie für ein Verbotsverfahren?

Weiß ich nicht, ich bin hin- und hergerissen. Auf der einen Seite halte ich die AfD für verfassungswidrig, auf der anderen Seite kann man nicht 20 Prozent der Bevölkerung die Partei nehmen. Das hat ja auch Folgen. Alles sehr, sehr kompliziert.

Es kursiert eine andere Idee, nämlich Höcke seine Grundrechte nach Artikel 18 abzuerkennen, so dass er nicht wählbar wäre. Damit könnte man bei Höcke durchkommen, was wiederum ein Signal wäre, so der Gedanke.

Was müsste die Ampel anders machen?

Vieles. Ich sage mal, um ein Beispiel zu nennen: Wenn das Bundesverfassungsgericht Haushaltstricks nicht zulässt, müssen sie jetzt nicht die Schuldenbremse einhalten und 17 Milliarden Euro an sozialen Leistungen kürzen. Davon gewinnt nur die AfD!

Noch ein Beispiel: Der ganze öffentliche Dienst kriegt bis einschließlich Februar 2024 einen Inflationsausgleich von 3000 Euro – auch die Bundesminister und der Bundeskanzler. Und die Rentnerinnen und Rentner haben 300 Euro gekriegt. Und andere kriegen gar nichts.

Diese Selbstbedienungsmentalität zerstört Vertrauen. Wissen Sie, was die Leute für Nachzahlungen bei den Energiekosten haben? Ich kriege dazu viele Emails. 7000 Euro sollen die zum Teil nachzahlen, das haben viele gar nicht. Da herrscht richtig Verzweiflung.

1990 auf dem ersten Parteitag der PDS: Der damalige Parteivorsitzende Gregor Gysi (l) mit dem Vorsitzenden des DDR-Ministerrates, Hans ...
1990 auf dem ersten Parteitag der PDS: Der damalige Parteivorsitzende Gregor Gysi (l) mit dem Vorsitzenden des DDR-Ministerrates, Hans Modrow. | Bild: Peter Zimmermann, dpa

Sie verstehen sich auch mit Politikern anderer Couleur gut. Wie war das mit Wolfgang Schäuble?

Wolfgang Schäuble war der erste, der im Dezember 1991, als ich ja noch völlig ausgegrenzt war, zu mir sagte: „Naja, Herr Gysi, ich will Ihnen nur sagen: Helmut Kohl und ich wissen, dass wir in erster Linie Hans Modrow und Ihnen zu verdanken haben, dass im Osten kein Schuss gefallen ist.“ Das durfte ich aber keinem erzählen, erst später hat er es mir erlaubt.

Ich habe jetzt seiner Frau geschrieben, dass mich das wirklich aufgebaut hat. Es gab ja nicht viele Leute, die verstanden haben, was meine Aufgabe war: Für die Gegnerinnen und Gegner der Einheit aus der DDR, für diejenigen, die wussten, dass aus ihnen nichts wird, und für diejenigen, die es später mitbekamen, auch einen Weg in die Einheit zu ebnen.

Einerseits deren Interessen zu vertreten, aber gleichzeitig selbstkritisch über die eigene Biografie nachzudenken. Das war schon wichtig! Und Schäuble hat es verstanden.