Werde ich mich in diesem Jahr überhaupt gegen die Grippe impfen können? Dass der Impfstoff in Zeiten von Corona und der Sorge vor einer Doppelinfektion knapp werden könnte, befürchten einige Leser, die sich an den SÜDKURIER gewandt haben. Ist die Sorge berechtigt? Wir gehen der Frage nach.
Der Ansturm auf den Impfstoff ist groß. Und er kommt viel früher als normalerweise: „Das war so nicht absehbar und ist kaum abzudecken“, bestätigt Reinhild Dohm, Inhaberin der Stadt-Apotheke in Radolfzell dem SÜDKURIER. Normalerweise würden die Impfungen gegen die saisonale Grippe erst Mitte Oktober beginnen, damit der Impfstoff seine Wirksamkeit bis zum Ende der Grippesaison im März behalte. Das Problem liegt ihrer Meinung nach aber anderswo: „Die Firmen produzieren keine großen Mengen mehr, es geht alles nur noch mit früher Vorbestellung“, sagt Dohm. Schuld sei das Gesundheitssystem, das die Preise für die Impfstoffe so weit herunterdrücke, dass die Firmen nur noch auf Vorbestellung produzieren könnten.
Impfstoffbestellungen noch vor der Coronakrise in Deutschland
Dohm sagt, die Hauptbestellung sei in diesem Jahr im Februar erfolgt, viele Ärzte hätten aber für ihre Kassenpatienten im April, als klar war, dass die Pandemie bleiben würde, nachbestellt. „Das war ja so im Februar noch nicht absehbar“, ergänzt Dohm, die findet, man könne den Ärzten hier „nicht unbedingt einen Vorwurf machen“. Derzeit produzierten die Firmen nach, die Stadt-Apotheke erwartet in den nächsten beiden Wochen Nachlieferungen. Das Bestellvolumen ist der Radolfzeller Apothekerin nach aber im Vergleich zu anderen Jahren „mindestens doppelt so hoch, wenn nicht mehr“.
Auch deutlich mehr Privatpatienten kommen den Angaben der Apothekerin zufolge in ihr Geschäft, die den Impfstoff selbst besorgen müssen und beim Arzt verabreicht bekommen. Dennoch sieht Dohm aktuell keinen Engpass: „Wir werden die meisten noch versorgt kriegen“, sagt sie.

Auch der Inhaber einer Apotheke in Villingen-Schwenningen bestätigt eine deutlich höhere Nachfrage beim Impfstoff – die Ärzte hätten 50 bis 100 Prozent mehr bestellt als in anderen Jahren. Eine Knappheit gebe es aber nicht, die Ärzte, die die Apotheke beliefere, seien versorgt. Seinen Namen will er in der Zeitung lieber nicht lesen, er fürchte Reaktionen von Patienten, die keinen Impfstoff bekommen hätten. Privatpatienten hätten derzeit Schwierigkeiten, an Einzeldosen zu kommen, diese kämen aber bald auf den Markt. „Es ist eigentlich jedes Jahr das Gleiche“, sagt er, „nur ist in diesem Jahr vielleicht die Panik etwas größer“, ergänzt er.
Viele wollen sich dieses Jahr früher impfen lassen
In der Löwen-Apotheke in Waldshut beschreibt Apothekerin Sigrun Bernauer die aktuelle Versorgungslage so: „Wir haben unsere Arztpraxen schon beliefert, aber es gibt wohl einen höheren Bedarf.“ Bernauer sagt, sie komme erst wieder Mitte November an Nachschub. „Das wäre aber noch rechtzeitig zur Grippesaison„, betont sie. Dass der Impfstoff nun knapper sei, liege vermutlich auch daran, dass sich viele Menschen in diesem Jahr schon früher impfen wollen. „Dafür reichen die Bestände scheinbar nicht.“

Anders sieht es bei einer Hausarztpraxis in Überlingen aus: „Bei uns ist der Impfstoff vergangene Woche ausgegangen, ich kriege nirgends mehr einen Impfstoff„, sagt eine Arzthelferin Martina Stork von der Hausarztpraxis von Gerhard Langenberger. „Im Moment ist nirgends mehr etwas zu bekommen“, sagt die Praxiskraft am Telefon. Die zuständige Apotheke, die die Praxis versorge, tue ihr Bestes, komme aktuell aber auch nicht an Nachschub, so Stork weiter.
Deutlich mehr Impfdosen für diese Saison
Dabei wurden in diesem Jahr mehr Impfdosen bestellt als üblich. Laut dem Paul-Ehrlich-Institut, das deutsche Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, sind für die neue Grippesaison 18,8 Millionen Chargen freigegeben worden. Zusätzlich hat das Bundesgesundheitsministerium eine nationale Reserve von sechs Millionen Chargen angelegt, wie eine Sprecherin dem SÜDKURIER auf Anfrage bestätigt.
Insgesamt stehen damit knapp 26 Millionen Impfdosen zur Verfügung: „Das sollte reichen, um alle Risikogruppen zu versorgen und eine Grippewelle zu verhindern“, so die Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums. Dazu trage auch die Einhaltung der Corona-Regeln bei.
Tatsächlich ist der Vorrat deutlich größer als noch im Vorjahr: Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums standen im vergangenen Jahr 21 Millionen Dosen zur Verfügung, davon wurden allerdings nur 14 Millionen Dosen verimpft. Ein Blick auf die Statistik der Ständigen Impfkommission (STIKO) zeigt zudem: Schon in der vergangenen Grippesaison vom Winter 2018/19 ließen sich nur geringe Anteile der Risikogruppen bei Influenza gegen die Grippe impfen.
Etwa 35 Prozent der Menschen über 60 Jahre und nur etwa 20–50 Prozent der Menschen mit chronischen Grundleiden haben sich demnach in der vergangenen Saison impfen lassen. Dabei haben ältere Menschen nachweislich ein erhöhtes Risiko, „dass eine Influenza-Erkrankung bei ihnen einen schweren Verlauf nimmt, zu Komplikationen wie Lungenentzündungen oder Herzinfarkt führt oder sogar tödlich verläuft“, wie die Ministeriumssprecherin erklärt.
Wie hoch ist der Bedarf am Impfstoff wirklich?
Doch was, wenn sich in diesem Jahr mehr Menschen als sonst impfen lassen wollen? Der Virologe Martin Stürmer hatte im SÜDKURIER empfohlen, dass sich möglichst viele Menschen gegen die Grippe impfen lassen sollten, weil eine Doppelinfektion mit Corona für jeden Körper eine große Belastung darstellten.
Die Ständige Impfkommission (STIKO) sieht das allerdings anders. Bereits im Juli unterstreicht die STIKO ihre Empfehlung, dass „mit den verfügbaren Impfstoffdosen insbesondere die Personengruppen vollständig gegen Influenza geimpft werden sollten, die ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe einer Influenza (oder von COVID-19) mit einem hohen Risiko einer Hospitalisierung haben.“ Genannt sind Senioren, Menschen mit chronischen Grundleiden, aber auch Ärzte, Krankenpfleger und Personal in Pflege- und Senioreneinrichtungen. Zudem sollten der Empfehlung nach Schwangere und Bewohner von Alters- oder Pflegeheimen gegen Influenza geimpft werden.
Engpass bei Grippeimpfstoffen bedeutet nicht unmittelbar ein Versorgungsengpass
Fakt ist: Häufig werden weniger Impfstoffe gebraucht, als bestellt werden, wie auch das Paul-Ehrlich-Institut bestätigt. So wurden laut Arzneimittelatlas in den Jahren 2016 bis 2018 im Durchschnitt 12,65 Millionen Impfstoffdosen verbraucht, 2016 waren es 12,25 Millionen, 2017 12,30 Millionen und 2018 13,39 Millionen). Das Paul-Ehrlich-Institut hatte im vergleichbaren Zeitraum im Durchschnitt 16,5 Millionen Impfstoffdosen freigegeben (2016: 16 Millionen; 2017: 17,9 Millionen, 2018: 15,7 Millionen), also rechnerisch jedes Jahr fast 4 Millionen mehr als tatsächlich genutzt wurden.
Auch die kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg geht davon aus, dass die Impfdosen reichen sollten, wenn man nach den Empfehlungen der STIKO impfe. „Wenn wir erreichen würden, dass sich die Risikogruppen impfen lassen würden, hätten wir schon viel erreicht.“ Die Impfstoffe seien bereits ausgeliefert an die Großhändler, Apotheken und Ärzte. Wie der Stand sei, könne regional sehr unterschiedlich sein, sagt Sprecherin Swantje Middeldorff.
Erstmals wurde zur Koordinierung in diesem Jahr auch eine Bedarfsermittlung eingesetzt, wie Sprecherin Susanne Stücker vom Paul-Ehrlich-Institut ergänzt. Und: Ein lokaler Engpass bei Grippeimpfstoffen sei nicht unmittelbar mit einem Versorgungsengpass gleichzusetzen. „Aufgrund der erhöhten Nachfrage zu Beginn der Impfsaison kann eine räumliche Ungleichverteilung der Grippe-Impfstoffe gegebenenfalls zu zeitlich begrenzten lokalen oder regionalen Engpässen führen.“
Das bestätigt auch die Landesapothekenkammer: Sprecherin Susanne Donath betont zudem, dass in diesem Jahr offenbar sehr früh mit den Impfungen begonnen wurde. „Die Nachfrage nach einer Grippeimpfung scheint für Anfang Oktober auch schon sehr hoch zu sein.“ Eine zentrale Erfassungsstelle über den Bestand an Grippeimpfstoffen in Apotheken gibt es übrigens nicht. „Diese würde auch nur einen Teil der Lieferkette abbilden“, erklärt Donath.