Die deutschen Gesundheitsämter müssen viel aushalten. Personalmangel in Zeiten einer Pandemie ist nur eines von vielen Problemen. Die mangelnde Digitalisierung stand in den vergangenen Monaten häufig im Fokus, meist gefolgt von Vergleichen mit Ländern wie Dänemark, wo die Krankenakten praktisch digitalisiert geführt werden. Aber ist das fair?
Die Grundlagen dafür hat das kleine Nachbarland schon in den 90ern gelegt. Sicher: Da hat der Wirtschaftsmotor Deutschland so einiges verschlafen. Andererseits ist das Land nicht von föderalen Strukturen gehemmt. Ein Vergleich mit einem Land, das ebenfalls föderal geprägt ist, scheint da schon fairer. Die Schweiz zum Beispiel – oder Österreich.
Schlechte Noten im europäischen Vergleich
Tatsächlich untermauert eine Studie von 2018 der Bertelsmann-Stiftung den Eindruck. Demnach rangiert die Schweiz beim sogenannten Digital-Health-Index gemeinsam mit Frankreich, Deutschland und Polen auf den letzten vier Rängen (Platz 14). Deutschland schnitt dabei sogar noch schlechter ab (Platz 16).
Auch die Schweiz scheint also längst nicht da, wo sie in Sachen Digitalisierung im Gesundheitswesen sein könnte. Erhebungen wie die der Deloitte Schweiz zeigen, wie eklatant der Nachholbedarf auch bei den Eidgenossen in Sachen Digitalisierung ist. Drei Viertel der Verwaltungsangestellten in den Behörden konnten demnach während des Lockdowns gar nicht oder nur teilweise von zu Hause aus arbeiten, weil es an der entsprechenden digitalen Infrastruktur fehlte.
Dafür belegt die Schweiz im Networked Readiness Index den siebten Platz. Die politischen und technischen Voraussetzungen sind also eigentlich gegeben, trotzdem stagnieren E-Health-Projekte wie das E-Patientendossier in der Schweiz seit Jahren.

Diesen Eindruck teilt auch der frühere Vizedirektor des Bundesamts für Gesundheit (BAG), Peter Indra. Im Gespräch mit dem SÜDKURIER sagt er, wo es seiner Ansicht nach klemmt.
„Kantönligeist“ steht oft im Weg
Eines der größten Probleme sieht er bei der Umsetzung von Bundesgesetzen durch die Kantone: „Die Kantone sind dafür verantwortlich, die Bundesgesetze umzusetzen, aber wie, ist ihnen überlassen“, erklärt der Leiter der Gesundheitsversorgung des Kantons Basel-Stadt. 26 Kantone, 26 Gesundheitssysteme. Dafür verantwortlich, Bundesgesetze umzusetzen, aber wie ist ihm überlassen. Das führt zwangsläufig zu Problemen.
So sollte das sogenannte E-Patientendossier, also digitale Krankenakten, seit 2007 eingeführt sein. Die Strategie dazu hatte Indra 2005 als damaliger Vizedirektor und Leiter des Direktionsbereichs Kranken-, Unfall- und Militärversicherung am BAG selbst geschrieben. 2021 ist die Schweiz nach der Einschätzung Indras immer noch „zwei bis vier Jahre von einer flächendeckenden Einführung“ entfernt.
Derzeit seien zwar einige Systeme im Aufbau, nur zwei davon sind einsatzfähig. Hinzu kommt, dass das digitale Patientendossier doppelt freiwillig aufgebaut ist. Der Patient kann sich dagegen entscheiden, so dass im Notfall aber zuständige Ärzte möglicherweise nichts von triftigen Vorerkrankungen wissen. Zum anderen müssen in erster Linie nur Pflegeheime und Krankenhäuser teilnehmen, nicht aber Praxen und niedergelassene Ärzte.

Dabei zeigen Länder wie Österreich, dass es auch anders geht. Hier speichert die elektronische Gesundheitskarte nicht nur die Identität des Inhabers, sondern liefert auch gleich die Krankenakte mit.
In mancher Praxis werde das Rezept noch handschriftlich ausgefüllt, so dass sie teils nicht entziffert werden können. 80 Prozent der Rezepte gehen in Papierform an die Apotheken. An einer digitalen Lösung, bei der die Rezepte direkt an die Apotheken übermittelt werden, wird gearbeitet. Noch gibt es sie aber nicht. Gerade ältere Ärzte seien häufig nicht allzu erpicht, ihre jahrelange Praxis noch umzustellen, gibt der Gesundheitsexperte zu bedenken.
Corona als Entwicklungstreiber
Corona aber zeigte die Schwere der vernachlässigten Digitalisierung. Wochenlang kursierte in der Schweiz die Falschmeldung, ein Zweijähriger sei an Corona gestorben. Tatsächlich handelte es sich um eine 102 Jahre alte Frau. Weil die Meldung zu ihrem Tod per Fax einging und erst abgetippt werden musste, konnte der Fehler überhaupt erst passieren.
Indra betont, die Pandemie empfinde er als schlimm. „Aber aus Systemsicht ist Corona ein Glücksfall“, sagt er und erklärt, was er meint: Denn der Virus habe „über diese Heftigkeit die Schwächen gezeigt“ und zu einem Evolutionsschub im Bereich der Digitalisierung geführt.
Das Land sei auf einen derartigen Krisenfall nicht vorbereitet gewesen. Denn auch die Vorhaben, die man vor 15 Jahren nach der Vogelgrippe geschmiedet hatte, blieben Ideen. Es gab kein digitales Meldesystem, nun fehlt es an einem nationalen Impfregister.
Derzeit gibt es nur Systeme, bei denen man sich freiwillig eintragen kann. Der nationale Impfpass wird nun zwar eingeführt, aber auch er ist freiwillig. Zudem funktioniert er noch nicht einwandfrei, wie Indra weiß.
Kistenweise Listen
Die Grenzen der Digitalisierung wurden durch die Pandemie ganz plastisch offenbar: Ganze Passagierlisten von Flügen wurden kistenweise nach Bern geschickt. Das führte teilweise dazu, dass erst Wochen später festgestellt wurde, dass viele Personen in Quarantäne hätten gestellt werden müssen.
Wären die Informationen digital eingegangen, hätte das BAG schneller reagieren können. So aber blieben möglicherweise viele Infektionsfälle unentdeckt, das Virus konnte sich weiter verbreiten.
„Diese Systeme müssen besser werden“, appelliert Indra. Und es brauche mehr Disziplin, glaubt er. Denn eigentlich „sind wir in der Schweiz gut digital unterwegs, wir haben eine hervorragende Basis für eine echte Digitalisierung und wir haben alle Instrumente zur Verfügung. Was fehlt, sind einheitliche Systeme über die ganze Schweiz„ und eine Bundesregierung, die der Umsetzung Nachdruck verleiht.
Größere Chancen für Deutschland?
Indras Fazit: Deutschland und die Schweiz sind sich in Sachen Digitalisierung gar nicht so unähnlich. Trotzdem rechnet er Deutschland größere Chancen zu, die Digitalisierung voranzutreiben. Hierzulande sei das „Obrigkeitsgefühl“ einfach größer, es also leichter, Dinge durchzusetzen. In der Schweiz hingegen stelle sich häufig der „Kantönligeist“ quer – der Wille der einzelnen Kantone, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.