Deutschland und die Schweiz teilen sich eine 316 Kilometer lange Grenze. Aus deutscher Sicht. Aus Schweizer ist sie 347 Kilometer lang. Niemand hat sich vermessen. Der Verlauf durch den Bodensee ist schlicht nicht geklärt. Diese Uneinigkeit steht symbolisch für ungleich bedeutsamere Punkte, bei denen die Länder nicht auf einer Linie verfahren. Trotz aller politischer Beteuerungen über einen „gemeinsamen Weg“ hat sich dies im Umgang mit Corona gezeigt.

Irrwitzig war es, als noch im späten Frühling das öffentliche Leben diesseits der Grenze weitgehend lahmgelegt, einen Schritt weiter der Biergarten aber bevölkert war. Von persönlichen Ärgernissen für Grenzbewohner bei zeitweiser geschlossener Grenzen ganz abgesehen. „Macht ein Virus etwa vor einer Landesgrenze Halt?“, lautet eine häufig wiederholte Frage.

Corona-Task-Force-Vize: Nationale Abschottung kostet enorm viel

Jan Egbert Sturm verneint sie, das hätten die ähnlichen Verläufe der Fallzahlen in Europa „deutlich gezeigt“. Der 52-jährige Ökonom ist seit Februar 2021 Vizepräsident der Schweizer Corona-Task-Force.

Der Ökonom Jan Egbert Sturm ist Direktor der Schweizer Konjunkturforschungsstelle KOF und seit Februar 2021 Vizepräsident der Schweizer ...
Der Ökonom Jan Egbert Sturm ist Direktor der Schweizer Konjunkturforschungsstelle KOF und seit Februar 2021 Vizepräsident der Schweizer Corona-Taskforce. | Bild: ETH Zürich / Giulia Marthaler

Gegenüber dem SÜDKURIER erklärt der in den Niederlanden geborene Experte für Konjunkturforschung: „Sich abzuschotten ist mit enormen Kosten verbunden, sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftlich.“ Die rasche Entwicklung von Impfstoffen habe gezeigt, dass man auch in einer Pandemie gemeinsam stärker sei.

In ihrer Corona-Politik waren Deutschland und die Schweiz häufiger anderer als gemeinsamer Meinung. Wessen Strategie erwies sich als die bisher bessere, die deutsche oder die der Eidgenossen?

„In die zweite Welle geschlittert“

Während der ersten Welle habe die Schweiz nach Einschätzung von Jan Egbert Sturm „sehr gut reagiert“, um die Verbreitung des Virus zu verhindern und Unternehmen zu helfen. Im Sommer 2020 konnte die Schweiz ihre Fallzahlen nicht so stark senken wie andere Nationen.

Laut Task-Force-Vize Sturm führte das dazu, dass das Land „von einer hohen Ausgangsposition in die zweite Welle schlitterte“. Eine schnelle Reaktion durch die Politik sei diesmal ausgeblieben. Dass Mitte dieses Jahres rasche Lockerungen erfolgten, bezeichnet der Ökonom dagegen als Risiko, dass sich rückblickend als Erfolg erwiesen hätte.

Wissenschaftlich belegt: Die Schweiz war lockerer

Eine Erhebung der University of Oxford erhärtet diesen Eindruck. Auf Basis von 23 Maßnahmen von Schulschließungen bis zur Impfstrategie ordnen die beteiligten Wissenschaftler Regierungsverhalten auf einem Index von 0 bis 100 (sehr streng) ein. Die Schweiz erreichte dieses Jahr maximal 60, Deutschland im Januar 85. Auch jetzt ordnet sich die Schweiz mit 44 im internationalen Vergleich weit unten auf der Skala ein (Deutschland: 56).

Legt man die Alltagsqualität zugrunde, lässt sich ein Loblied hierauf singen. Auch wie man lebt, gehört zur unantastbaren Würde des Menschen. Gegenteilig lässt sich anführen: Es ist erst einmal wichtig, dass man überhaupt lebt, möglichst gesund, ohne Covid-Erkrankung.

Wirtschaftspolitik auf Kosten der Gesundheit?

Fahrlässig hätte der Bund wirtschaftliche Interessen gegen die Gesundheit ausgespielt, lautet ein Vorwurf gegenüber der Schweiz. Wenn dies stimmt, wäre der Weg zumindest erfolgreich gewesen. Das Bruttoinlandsprodukt gab 2020 verhältnismäßig wenig nach. Inzwischen hat die eidgenössische Wirtschaft wieder ihr Vorkrisenniveau erreicht. Das ist den meisten anderen Industrienationen noch nicht gelungen, Deutschland liegt bei 96,7 Prozent.

Laut Ökonom Jan Egbert Sturm hat das etwas mit der für diesen Fall widerstandsfähigeren Schweizer Wirtschaftsstruktur zu tun. Der Tourismus mag zwar in der Außenwahrnehmung der Schweiz eine große Rolle spielen, ein landesweiter Wirtschaftsfaktor sei sie aber nicht, erklärt Sturm. „Der Banken- und Versicherungssektor, aber auch die pharmazeutische und chemische Industrie sind dagegen wichtig und haben sich in dieser Pandemie als äußerst robust erwiesen.“

Die Schweizer Lockerheit hat auch eine Kehrseite. In einer Phase Ende 2020 starben in der Schweiz, gemessen an der Gesamtbevölkerung, viermal so viele Menschen in Zusammenhang mit Corona als in Deutschland.

Mitte 2020 hat die Schweiz Maßnahmen zu langsam umgesetzt

Sturm räumt ein, dass die Schweiz zum Jahreswechsel „relativ schlecht abgeschnitten hat“. Dabei seien nicht der Umfang der Maßnahmen das Problem gewesen, sondern eher die zu langsame Umsetzung. „Bei starkem exponentiellem Wachstum zählt jeder Tag“, fasst der Wirtschaftsexperte zusammen.

Bei der Zahl der Corona-Toten haben sich Deutschland und die Schweiz inzwischen angenähert, auf niedrigem Niveau. Sorgenfrei ist man in der Eidgenossenschaft dennoch nicht. Derzeit infizierten sich dort doppelt so viele Menschen und – ungleich bedenklicher – es müssen doppelt so viele Covid-Patienten ins Krankenhaus.

Impfquote der Schweiz liegt bei nur 58 Prozent

Spitäler sendeten bereits Alarmsignale wegen der hohen Auslastung der Intensivstationen mit Corona-Infizierten. Es kamen Diskussionen über die harte Triage auf. Noch immer liegt schweizweit in knapp 30 Prozent der belegten Intensivbetten ein Corona-Patient (Deutschland: 5,4 Prozent).

Nahezu alle seien ungeimpft, verdeutlichte das Bundesamt für Gesundheit und zog kurz darauf die Zügel an: Der Bund weitete die 3G-Regel nach langem Zögern ebenfalls auf fast alle Bereiche aus, erließ neue Vorgaben für die Einreise und lässt die Bürger ab Mitte Oktober selbst für Schnelltests bezahlen. Der Druck scheint berechtigt. Die Impfquote stagniert bei 58 Prozent (Deutschland: 65 Prozent).

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Warum lassen sich noch weniger impfen als in Deutschland?

„Ein auch nur gefühlter Impfzwang würde von großen Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert“, sagt Jan Egbert Sturm dazu. Selbst über eine 2G-Regelung würde erst bei einer deutlichen Verschlechterung der Gesundheitslage diskutiert, gibt der Corona-Task-Force-Vize mit Blick auf die Schweizer Gesellschaft zu bedenken. Sie sei stärker auf Eigenverantwortung bedacht als die umliegender Länder. Entsprechend zurückhaltend agierte der Staat bei der Impfkampagne, so Sturm.

Stadt-Land-Graben? Impfquoten in Grenznähe besonders tief

Ausgesprochen tief liegt die Quote in den grenznahen Kantonen St. Gallen, Thurgau und den Halbkantonen im Appenzell, wo jeweils nur jeder Zweite vollständig geimpft ist. Am besten greift die Kampagne in den Stadt-Kantonen Basel und Zürich sowie in Neuenburg und im Tessin. Das mag einerseits mit einem Stadt-Land-Graben bei der Impfmotivation zu tun haben.

Corona-Proteste am 25. September in Uster (Kanton Zürich).
Corona-Proteste am 25. September in Uster (Kanton Zürich). | Bild: Walter Bieri

Anderseits nimmt Ökonom Sturm die stärkste Schweizer Partei, die rechte SVP, mit in die Verantwortung, die nicht in allen Kantonen denselben Rückhalt genieße. Bei kantonalen Wahlen erreicht die ins rechtspopulistische abgleitende Partei im Thurgau, Aargau oder Schaffhausen seit Jahren Stimmenanteile von über 30 Prozent. Die SVP habe sich, formuliert der Corona-Task-Force-Vize diplomatisch, „bisher zurückgehalten, wenn es darum ging die Bevölkerung zum Impfen aufzufordern“.

Wie die Schweiz den Impf-Turbo zünden will

Gesundheitsminister Alain Berset will nun die Motivation mit mehreren Maßnahmen erhöhen. Beispielsweise mit einem Ausbau mobiler Impfteams, für die die Kantone finanziell unterstützt werden könnten. Auch eine nationale Impfwoche – in Deutschland fand sie bei mäßigem Erfolg bereits statt – kommt.

Die kreativste Idee aber: 50-Franken-Gutscheine (45 Euro) für jeden, der jemanden zum Impfen bewegen kann. Die Kantone dürfen entscheiden, wofür der Betrag verwendet wird.