Herr Wolffsohn, hätte man in Israel mit einem Angriff der Hamas rechnen müssen – gerade um das symbolträchtige Datum 6. Oktober herum mit Blick auf den Jom-Kippur-Überfall von 1973?

Symbole sind wichtig, aber entscheidend sind die Rahmenbedingungen. Und die waren, die sind immer noch für Israel höchst ungünstig. Selbstverschuldet von der Netanjahu-Koalition. Sie hat das Volk gespalten. Israels Militär ist eine echte Volksarmee, und wer das Volk spaltet, spaltet auch das Militär. Und wer das Militär spaltet, macht es ineffizient.

Waren die Politiker in Israel zu sehr mit sich selbst beschäftigt – etwa durch die Justizreform und den Protest dagegen?

So ist es. Wer fast nur auf den eigenen Bauchnabel schaut, sieht weder den eigenen Körper in seiner Gesamtheit, sieht nicht die Außenwelt und noch weniger die Gefahren, die von außen drohen. Wachsame Israelis haben genau das vorhergesagt. Der Terror-Regisseur Iran sowie dessen ausführendes Organ Hamas haben das verstanden und dementsprechend gehandelt.

Nun hat Regierungschef Benjamin Netanjahu angekündigt, der Gegenschlag werde den Nahen Osten „verändern“. Ist das Rhetorik, oder will man die Hamas wirklich komplett ausschalten?

Das dürfte ernst gemeint sein. Doch Meinen und Machen-Wollen heißt nicht automatisch Machen-Können. Es bleiben die rund zwei Millionen Palästinenser im Gazastreifen, es bleibt der Regisseur Iran mit seinen Marionetten Hisbollah im Libanon und Syriens Diktator Assad.

Momentan überbietet sich der Westen mit Solidaritätsinteressen gegenüber Israel. Wird das so bleiben, wenn im Gazastreifen Häuserkämpfe toben und sich palästinensische Frauen wieder vor den Kameras der Medien postieren oder tote Kinder hochgehalten werden?

Gewiss nicht, so sicher wie das Amen im Gebet. Ähnlich wie bezüglich der Ukraine. Auch hier bröckelt die Solidarität. Menschen sind eben oft alles andere als menschlich. Wenn es unbequem wird, noch weniger als sonst.

Ihre Frage ist im Übrigen nicht einmal hypothetisch, sie wird weltweit durch Äußerungen in Politik und Medien bereits bestätigt. Verinnerlichte, vorurteilsbehaftete Wahrnehmungen wirken eben stärker als die Empörung über jeweils andere Wirklichkeiten.

Unabhängig von der wetterwendischen öffentlichen Meinung in Deutschland und Westeuropa steht die Regierung der USA zuverlässig auf der Seite Israels. Unter Präsident Joe Biden ebenso wie, die US-Wähler mögen es verhüten, Donald Trump. In den USA weiß man besser als in Deutschland, was nationale Interessen sind und bei wem und wo sie besser aufgehoben sind.

Wie hoch ist überhaupt die Kampfkraft der Hamas-Leute? Sie haben keine schweren Waffen, viele Männer, die in den Kibbuz mordeten, trugen keine Uniformen, hatten „nur“ Handfeuerwaffen. Israel meldet 1500 Getötete. Ist die Hamas nicht schon jetzt quasi am Ende?

Hamas wendet eine Mischung aus Terror gegen das Zivil Israels, Guerilla gegen Israels Militär und konventionelle Gewalt wie Raketen an. Hamas ist keine konventionelle Armee. Das heißt nicht, dass sie mit ihren Mitteln nicht taktisch erfolgreich operieren könnte.

Wenn aber Gewalt oder Rache kein Selbstzweck sein soll, sondern helfen soll, das jeweilige politische Ziel zu erreichen, dann bewirken diese taktischen Erfolge der Hamas eine politische Niederlage nach der anderen.

Ein eigener Staat Palästina erscheint so gar nicht mehr erreichbar...

Dieses Ziel rückt in weite und noch weitere Ferne. Die Methode der Hamas ist politisch selbstmörderisch. Doch ihr gemäß handelt die Palästinensische Nationalbewegung seit mehr als 100 Jahren. Das ist die Tragödie des palästinensischen Volkes. Seine Führung ist seit jeher nur zu Gewalt als Selbstzweck in der Lage.

Gibt es die Chance auf eine militärische Austrocknung der Hamas, auch was den Nachschub von Raketenteilen in den Gazastreifen betrifft?

Offensichtlich nicht oder noch nicht. Israel hat es ja seit Jahren versucht. Vergeblich, wie wir jetzt einmal mehr sehen. Übrigens, Ironie der Geschichte: Israels Mossad hat in den 1980er-Jahren aktiv bei der Gründung der Hamas geholfen. Als Gegengewicht zur PLO Arafats. Noch eine krasse Fehleinschätzung also.

Gibt es in Israel politische Kräfte, die einen finalen Feldzug gegen die Hamas skeptisch sehen – oder auch im Militär?

O ja, weil ein solcher Feldzug nicht „final“ wäre. Wir sollten solche Begriffe aber bitte nicht benutzen. Final, also ein Ende meinend, erinnert an Hitlers „Endlösung der Judenfrage“, also an Auschwitz. Keiner in Israel will so etwas bezüglich der Palästinenser.

Zurück zu Ihrer Frage: Sollte Hamas sozusagen k.o. geschlagen werden, wird eine andere, mindestens ebenso militante Palästinenser-Bewegung entstehen, wenn es keine politische Lösung gibt. Es gibt schon eine solche, den Islamischen Dschihad. Der ist jederzeit ausbaufähig.

Kanzler Scholz sagte, auch Deutschland werde sicherstellen, dass sich Israel verteidigen kann. Braucht Israel deutsche Waffen- oder Technologiehilfe?

Genau genommen macht der Kanzler sich selbst und damit leider auch Deutschland lächerlich. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Israel schützt Deutschland.

Kürzlich kaufte Berlin von Israel einen Raketen-Schutzschirm, und seit Jahren profitiert Deutschland von Israels Hilfe im Kampf gegen und zur Verhinderung von Terror in Deutschland. Und die Bundeswehr pfeift jetzt schon aus dem letzten Loch.

Aber was erhoffen Sie sich von der deutschen Politik? Ist es damit getan, Gelder an die Autonomiebehörde einzufrieren? Oder muss jetzt nach dem Massaker gerade in Deutschland nicht mehr passieren?

Unsere Außenministerin behauptet ja, dass Deutschland keine Budgethilfen an die Palästinenser leiste. Das ist falsch. Entweder wurde Frau Baerbock von ihren Mitarbeitern falsch informiert oder sie lügt. Das „Kind“, um das es hier geht, hat einen anderen Namen.

Deutschland leistet seit Jahren sogenannte Sektorale Budgethilfen an die Palästinenserbehörden. Und das im Rahmen der „Korb-Finanzierung“, an der mehrere Staaten beteiligt sind. Daher der Begriff „Korb“. Man sollte uns Bürger bitte nicht so offen für dumm verkaufen. Es würde übrigens vollkommen ausreichen, den 2019 gefassten Bundestagsbeschluss gegen die BDS-Bewegung in die Tat umzusetzen.

... Sie meinen die Bewegung „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“, die Israel politisch und wirtschaftlich isolieren will. Welches Versäumnis sehen Sie?

Der Beschluss wollte: Kein Geld für Akteure, die direkt oder indirekt palästinensischen Terror unterstützen. Das Plenum beschloss das, der Haushaltsausschuss kippte den Beschluss still und leise, und das Plenum segnete ab, was dem eigenen Beschluss zuwiderlief.

Das ist deutsches Kasperletheater mit für Israelis und auch Palästinenser tödlichen Folgen. Nennt sich das „deutsche Friedenspolitik“?

Bei uns leben 5,5 Millionen Muslime, manche haben den Angriff jetzt gefeiert. Das muss man unterbinden – aber reicht das? Wie viel Antisemitismus tragen junge Muslime in deutsche Schulen? Was bedeutet das für den Unterricht, für die Lehrer – etwa beim Thema Holocaust?

Das bedeutet, was wir seit Jahren auf deutschen Straßen erleben. Rufe wie „Juden ins Gas“, „Tod den Juden!“, „Tod Israel“. In Berlin-Neukölln wurde vor wenigen Tagen ein Lehrer von Schülern körperlich misshandelt, weil er es wagte, sie dazu aufzufordern, die Palästina-Flagge einzurollen, die sie auf dem Schulgelände jubelnd herumtrugen. Das Problem bei uns besteht nicht darin, dass es keine Regeln gäbe. Es besteht darin, dass sie nicht durchgesetzt werden. Es fehlt am politischen Willen.