Herr Ehlers, wenn man sich Putin anschaut, dann sieht man bei ihm kaum Mimik. So als trüge er eine unbewegliche Maske, ein ständiges Pokerface. Wie sehen Sie das?
Ja, das stimmt. Offensichtlich wurde bei ihm Botox über die Augenbrauen gespritzt. Nachdem ich vor Kurzem zwei Fernseh-Interviews gegeben hatte, haben mich zwei Ärzte angeschrieben und auf zweierlei hingewiesen: Dass Putin Botox höchstens über den Augenbrauen gespritzt hat und, dass er seit längerer Zeit Cortison nimmt und sein Gesicht deshalb so aufgedunsen ist. Diese beiden Mischungen machen, dass er sehr schwer lesbar ist, zumindest, was solche Mikroausdrücke angeht. Als Ex-KGB-Mann weiß er auch, dass man alles an der Mimik ablesen kann.

Was sind zum Beispiel solche Mikroausdrücke?
Wenn Sie etwas fühlen, sagt Ihr Gesicht das sofort. Selbst wenn Sie es unterdrücken wollen, ist es für eine Fünftelsekunde sichtbar. Verspüren Sie Wut, dann zieht sich Ihre Stirn oben zusammen, die Zähne beißen aufeinander, die Lippen werden dadurch dünner. Profis sehen das sofort.
Gibt es Momente, wo Sie sehen, dass er lügt?
Ja, in der Rede, in der er seinem Volk den Angriff auf die Ukraine als Mission der Befreiung darstellt, gibt es einen Moment, in dem er kurz die Schultern hebt, nämlich, als er sagt, die Ukraine strebe nach Atomwaffen. Er selbst merkt das beim Sprechen nicht, sonst könnte und würde er es kontrollieren. Auch der Moment, wo Putin sagt, die Ukraine strebe nach mehr Waffenmacht, zeigt eine Inkongruenz: Während er das sagt, schüttelt er den Kopf. Doch wenn er meint, was er sagt, müsste er nicken.

Bei der Pressekonferenz im Dezember 2020, wenige Monate nach dem Giftanschlag auf Alexej Nawalny gibt es auch einen solchen Moment. Putin sagt: „Der Berliner Patient genießt die Unterstützung amerikanischer Geheimdienste. Da ist es doch klar, dass unsere Dienste ihn beobachten. Aber das heißt doch nicht, dass sie ihn vergiftet haben. Hätte man das gewollt, wäre das durchgezogen worden.“ Bei diesem letzten Satz hebt er kurz die Schultern. Wie interpretieren Sie das?
Die semantische Botschaft ist: Wenn unser Geheimdienst ihn umbringen will, ist er tot. Wir können aber davon ausgehen, dass es der Geheimdienst war, und dass es nicht gelungen ist. Das führt zu einer inkongruenten Aussage, zu der das Schulterzucken im Widerspruch steht. Wenn er eine Frage stellt und diese ehrlich meint, zuckt die Schulter zuerst, bevor er spricht. Die Emotion ist vorher da. Wenn er den Satz ausspricht und dann gehen die Schultern hoch, ist das inkongruent. Ein einseitiges Schulterzucken ist ein klarer Widerspruch.

Unsäglich ist, wie er grinst und sagt, er habe der Bitte von dessen Frau, den Patienten ausreisen zu lassen, sofort entsprochen. Nawalnys Namen spricht er ja nie aus.
Zu lachen in einer Situation, in der es um den Giftanschlag auf einen Menschen geht und die persönliche Kommunikation zu dessen Ehefrau – unpassender geht‘s nicht. Das ist, wie wenn man auf einer Beerdigung einen sozial abwertenden Witz macht. Dass er Nawalnys Namen nicht ausspricht, hat Methode. Er würde ihn dadurch aufwerten.
Gibt es weitere Anzeichen, dass jemand lügt?
Häufiges Blinzeln und eine höhere Stimme. Wer lügt, hat Stress und das führt dazu, dass er die Hand ins Gesicht nimmt. In der Szene sieht man, dass er auch die Hand an den Mund unter die Nase nimmt. Das ist verräterisch bei Männern. Sie haben borstigere Nasenhaare. Durch den Stress werden die Schleimhäute angeregt: Die Nasenhaare stellen sich auf, und es kitzelt.
Eine einzelne Beobachtung sagt jedoch noch nichts aus. Das Kitzeln kann auch ein Fussel sein. Wir beobachten sogenannte Bewegungstrauben, das heißt, mindestens zwei körpersprachliche Aussagen müssen positiv oder negativ sein, dann können wir ziemlich sicher sein.

Nehmen wir die Szene, als er seinen Auslandsgeheimdienst-Chef öffentlich zurechtstutzt, als dieser sich versehentlich für eine russische Übernahme der beiden Volksrepubliken Luhansk und Donezk ausspricht. Glauben Sie, dass er sich beraten lässt, wie er sich in solchen Situationen verhält, oder kommt das aus dem Bauch heraus?
Hier haben wir es mit Machthybris zu tun. Wenn jemand lange an den Hebeln der Macht ist, gibt es immer weniger Kritiker und immer mehr Menschen, die einem zusprechen, und die selbst falsches Verhalten als richtig deklarieren. Er ist über 20 Jahre an der Macht und hat sich während der Pandemie regelrecht eingebunkert.

Alles wirkt sehr inszeniert, wenn er auftritt: Die Räume, die Fahnen im Hintergrund, der lange Tisch, an dem er Scholz und Macron platziert hat. Gehört das zum Machtspiel?
Putin inszeniert sich immer. Da bleibt nichts dem Zufall überlassen. Wenn er an einem langen Tisch sitzt, will er Macht und Stärke zeigen. Im Vergleich zu seinen Vorgängern Chruschtschow, dem wütenden Mann, der mit seinem Schuh aufs Rednerpult drischt, oder dem volltrunkenen Jelzin, der peinlichste Auftritte hatte, inszeniert Putin sich als fitter und besonders starker Mann.
Bei Ansprachen fürs Fernsehen sitzt er oft mit breit abgespreizten Ellbogen am Tisch. Wie interpretieren Sie das?
Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Wenn er sich so breit abstützt, kann das einerseits eine Machtdemonstration sein, in dem Sinne, dass er sich breiter macht, als er ist. Oder er gibt sich durch diese Haltung Stabilität. Die Frage ist ja, warum er Cortison nimmt, wie die Ärzte sagen. Hier gibt es schon lange das Gerücht, dass er unter sehr starken Rückenschmerzen leidet. Das führt auch zu solchen Schutzbewegungen.

Wenn er geht, hat man nicht den Eindruck, dass da ein Alphatier läuft. Er sieht eher aus wie ein kleiner Beamter.
Da gibt es ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen. Bei YouTube ist der Putin-Walk ein Hit. Seine Fans feiern ihn für seinen selbstbewussten Schritt. Natürlich ist er ein kleiner Mann. Er macht oft große, leicht seitlich gehende Schritte und sein rechter Arm schwingt nicht. Als KGBler hat er gelernt, die Waffe am langen Arm zu tragen oder starr auf der Brust. Der linke Arm schwingt, aber nicht so ausladend. Es könnte auch eine Schutzhaltung sein, aber Geheimdienstexperten halten es klar für einen Auswuchs des KGB-Trainings.
Bei Putin ist auch zu beobachten, dass er bei Gesprächen stark seine Füße bewegt. Warum tut er das?
Putin ist ständig geladen, weil er seine Füße dauernd bewegen muss. Auch das ist ein klassisches Geheimdienst-Training. Man gibt alle Energie in die Füße, die sich ja oft unter dem Tisch befinden und bei Gesprächen nicht zu sehen sind. Dann wirkt man oben starr und verlässlich.
Gibt es Zeichen von Unsicherheit bei Putin?
Ja, viele. Wer sich wirklich sicher ist, hat keinen Stress und braucht keine Stresskontrollgestiken zu machen, wie bei ihm die Fußbewegungen, oder bei dem Statement zur Unabhängigkeitserklärung der beiden Regionen, wenn er die Fingerkuppen auf die Tischplatte presst. So gibt er sich Halt und Sicherheit.

Als Putin 2020 den belarussischen Staatschef Lukaschenko trifft, eine der wenigen Male, dass er während der Pandemie überhaupt seine Residenz in Moskau verlassen hat, fällt außer unruhigen Füßen auf, dass er mit gespreizten Beinen dasitzt. Eine Sitzhaltung, die man überhaupt bei Männern sehr oft beobachten kann. Wie wirkt das auf Sie?
(lacht) In der Tat. Das ist eine typisch männliche Geste: Ich mache mich breiter, als ich bin. Damit giere ich nach sozialer Anerkennung. Ein selbstbewusster Mann mit einem vernünftigen Mann- und Selbstbild hat so etwas nicht nötig.
Es gibt ja auch die Szene, als Merkel Putin 2007 beim Staatsbesuch in Sotschi trifft und er seinen schwarzen Labrador ins Zimmer lässt. Ihr ist das offensichtlich unangenehm, weil sie auch schon einmal von einem Hund gebissen wurde. Er dagegen genießt den Moment.
Das ist ein sehr russisches Männer-Bild. Die schwache Frau und daneben sitzt der Alphamann. Man kann davon ausgehen, dass er über seinen Geheimdienst auch von dem Hundebiss von Merkel wusste.

Wir erleben ja nur die Übersetzung. Doch wie spricht Putin?
Er benutzt sehr wenige rhetorische Stilmittel wie zum Beispiel Metaphern. Sehr intensiv verwendet er rhetorische Fragen, einerseits, um Zeit zu gewinnen. Die Frage löst immer auch einen Antwort-Impuls bei den Zuhörern aus. Damit sorgt er für Aufmerksamkeit. Obwohl er perfekt Englisch und Deutsch spricht, lässt er sich bei Interviews die Fragen übersetzen. So gewinnt er Zeit. Er hört die Frage, dann kommt der Übersetzer. Es wirkt wie eine natürliche Übersetzungspause – und durch den Zeitgewinn kann er hervorragend taktisch antworten.