Frau Käßmann, in der Corona-Krise stellt sich die Frage: Geld oder Leben? Wer Menschen schützt, schadet der Wirtschaft – und umgekehrt. Was macht so eine Frage mit uns?

Ich denke, die Frage ist zu kurz gegriffen. Wir können das eine nicht gegen das andere aufwiegen, die Politik muss da genau hinsehen. Es ist sehr klar, dass in so einer Situation auch Menschen sich das Leben nehmen, dass in Familien Gewalt herrscht. Deshalb habe ich die Zuversicht, dass die Politik die richtige Balance findet. Sie muss einerseits beschützen und das Gesundheitssystem so aufrechterhalten, dass es nicht überfordert ist. Zum anderen müssen Beschränkungen dort gelockert werden, wo das möglich ist. Ärzte sagen mir, dass die Jungen sich mit diesem Virus offensichtlich leichter tun. Es sollten also Schritt für Schritt die Schulen und Kindertagesstätten wieder geöffnet werden. Es werden schwierige Entscheidungen sein, die Politiker verantworten müssen. Deshalb bin ich froh, in einem Land zu leben, in dem ich der Politik genau das zutraue.

In Italien zwingt der Mangel an Ausrüstung Ärzte dazu, zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss…

Für Ärzte gibt es immer wieder schwierige Situationen, aber sie sagen selbst, sie sind darauf vorbereitet. Wir können den Ärzten also vertrauen. Sie werden um jedes Leben kämpfen. Hinzu kommt: Deutschland ist wahrscheinlich deutlich besser gerüstet als jedes andere Land. Menschen müssen nicht in Panik verfallen, weil sie fürchten, sie werden „aussortiert“. Dass es Entscheidungen geben kann, bei denen der Mensch schuldig wird, ist nie auszuschließen im Leben.

Muss sich vielleicht auch deshalb die Gesellschaft viel stärker mit dieser Frage beschäftigen?

In solchen Situationen entscheiden Ärzte nie alleine, da gilt immer das Sechs-Augen-Prinzip. Aber es ist so: Die Entscheidung müssen die Ärzte treffen, das kann ihnen niemand abnehmen. Worüber die Gesellschaft diskutieren sollte, ist die Frage: Wie will ich eigentlich sterben? Habe ich eine Patientenverfügung? Ich erlebe immer wieder, dass Menschen das abwiegeln, nicht darüber sprechen möchten. Vielleicht rüttelt diese Krise so manchen auf.

Osternacht ohne Gläubige: Pfarrer Stefan Saum steht in St. Peter (Schwarzwald) vor dem Osterfeuer.
Osternacht ohne Gläubige: Pfarrer Stefan Saum steht in St. Peter (Schwarzwald) vor dem Osterfeuer. | Bild: Patrick Seeger/dpa

Zeigt uns diese Krise also auch, dass wir uns wieder stärker mit dem Tod auseinandersetzen müssen?

Ich halte es für wichtig, sich mit der Endlichkeit des Lebens zu beschäftigen – das muss ja nicht jeden Tag sein. Viele Menschen versuchen, den Tod zu verdrängen. Ich persönlich finde Gespräche über Leben und Sterben immer als sehr bereichernd. Manche sagen, wir hätten uns zu einer Spaß-Gesellschaft entwickelt – alles muss immer Spaß machen. Sich einmal mit den Grundfragen des Lebens zu beschäftigen, tut einer Gesellschaft durchaus gut. Hinzu kommt: Was wir tabuisieren, macht uns viel mehr Angst als das, was wir aussprechen. Stattdessen haben wir viele Rituale verloren, etwa die Aufbahrung eines Toten. Doch solche Rituale geben Halt. Als Seelsorgerin habe ich die Erfahrung gemacht, dass die alten Worte „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich“ auch heute noch trösten. Schon Generationen vor uns haben Schweres erlebt und Kraft und Halt im christlichen Glauben gefunden. Für mich sind diese Worte auch deshalb wichtig, weil sie größer sind, als das, was ich selbst an Betroffenheit ausdrücken kann.

Das könnte Sie auch interessieren

Haben Sie Angst, dass diese Corona-Krise unsere Gesellschaft spalten kann, dass der Graben zwischen Jüngeren und Älteren tiefer wird?

Das sehe ich nicht – im Gegenteil: Ich erlebe eine ganz große Solidarität auf vielen Ebenen. In Niedersachsen bin ich Mitherausgeberin der Straßenzeitung „Asphalt“, die Obdachlosen dürfen sie gerade nicht verkaufen. Die Reaktion ist eine große Spendenbereitschaft vieler Menschen. Kleine regionale Läden erleben eine ganz neue Wertschätzung, Klassenlehrerinnen rufen ihre Schüler einzeln an, um zu helfen. In dieser Krise wächst also auch viel Gutes. Aber eines muss ich auch mal sagen: Ich werde bald 62, zähle also auch zu den „Alten“. Und wenn es für die Gesellschaft hilfreich ist, dass ich zu Hause bleibe und dafür die Kinder wieder rauskönnen, dann wäre das für mich kein Opfer, sondern Ausdruck der Solidarität.

Machen Sie sich also keine Sorgen, dass die Schwächsten der Gesellschaft noch weiter an den Rand gedrängt werden?

Doch, um die mache ich mir Sorgen. Um Menschen in Altenheim, die jetzt ohne Besuch bleiben. Oder: Wer einen 450-Euro-Job hat, kommt nicht unter einen Rettungsschirm. Wohnungslose, Alleinerziehende, alle, die sich derzeit nicht über die Tafeln ernähren können, alle, die Angst haben – um sie mache ich mir wirklich Sorgen. Mit diesen Menschen müssen wir Solidarität zeigen. Aber genau das erlebe ich auch in den Kirchengemeinden.

Eine Seniorin betritt mit ihrer Gehhilfe den Eingang ihres Seniorenheims. Hier gelten besonders strenge Regeln.
Eine Seniorin betritt mit ihrer Gehhilfe den Eingang ihres Seniorenheims. Hier gelten besonders strenge Regeln. | Bild: Daniel Karmann/dpa

Und wenn die Stimmung irgendwann kippt?

Der Mensch kann viel aushalten, das weiß ich aus den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern. In Kriegszeiten wurden auf einmal Kräfte wach, die sie selbst gar nicht vermutet hatten. Andererseits müssen wir aufpassen, dass die Menschen nicht völlig ihre innere Haltung verlieren, weil sie nicht mehr raus dürfen. Zwischen Angst und Sorglosigkeit eine Haltung der Besonnenheit zu finden, das wird in den kommenden Tagen und Wochen das Wichtigste sein.

Sie haben das Wort „Krieg“ erwähnt. Müssen wir uns stärker bewusst machen, dass es uns trotz aller Beschränkungen noch immer sehr gut geht?

Ich bin sehr dankbar, in diesem Land leben zu dürfen. Bei aller Kritik, die es immer wieder gab in den vergangenen Wochen, wächst vielleicht auch die Dankbarkeit – das wünsche ich mir. Wir haben ein Land der Freiheit, eine Politik, die vernunftgesteuert handelt. Wir sind ein Land, in dem es wirtschaftliche Solidarität gibt. Wird jemand in den USA arbeitslos, gibt es kein Kurzarbeitergeld. Auch in unseren Partnerkirchen wie in Ruanda ist die Angst riesig, weil es dort kaum medizinische Versorgung gibt.

Das könnte Sie auch interessieren

Wird sich diese Dankbarkeit auch ökonomisch widerspiegeln? Immerhin sind plötzlich jene Berufe systemrelevant, die uns am wenigsten wert sind: Krankenschwestern, Verkäuferinnen …

Ich bin ein hoffnungsvoller Mensch. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir ganz neu auf Berufsgruppen schauen werden, die noch vor Kurzem nicht die notwendige Wertschätzung erfahren haben. Es sind ja vor allem schlecht bezahlte Frauenberufe, die jetzt systemrelevant sind: Die Kassiererin im Lebensmittelladen, die Altenpflegerin, aber auch Post- und Paketboten, die Müllabfuhr. Diese Gruppen müssen auch auf lange Sicht eine höhere Wertschätzung erfahren – und damit auch eine bessere Bezahlung. Eine weitere Hoffnung, die ich habe, ist, dass wir sehen, dass ein Gesundheitssystem nicht alleine unter ökonomischen Gesichtspunkten betrieben werden kann. Krankenhäuser standen unter einem wahnsinnigen Druck. Doch dabei geht es wirklich um Daseinsfürsorge.

Ist diese Krise also auch eine Chance?

Das sehe ich wirklich so! Wir durchlaufen gerade eine sehr, sehr schwierige Phase. Aber wenn wir da durch sind, werden wir einen anderen Blick auf dieses Land werfen. Dankbarkeit, Wertschätzung, Nächstenliebe – das werden wichtige Begriffe sein, die eine viel größere Bedeutung bekommen werden. Unser Grundgefühl, dass immer alles da ist, dass wir unser Leben planen können, ist erschüttert. Die Corona-Krise ist eine Ohnmachtserfahrung. Das ist für viele schwer zu begreifen – vieles wird uns erst im Nachhinein klar werden.

Worauf freuen Sie sich besonders, wenn die Einschränkungen überstanden sind?

Ich freue mich am meisten auf meine Enkelkinder. Es tut mir richtig weh, sie nicht in den Arm nehmen zu können. Die Menschen sind es doch, die einem fehlen. Ich denke, das geht vielen anderen auch so. Neulich hat mir jemand gesagt: Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Familie mal vermisse.