Das Coronavirus spaltet den Nebel. Es pflügt das Land um und stellt es neu auf. Die Gesellschaft bildet eine neue Pyramide, in der die Prädikate „wichtig“ und „unwichtig“ unverblümt verteilt werden. Das Ergebnis ist eine improvisierte Ständegesellschaft, in der alle Teilnehmer ihren festen Platz einnehmen, den sie – immer mit dem Appell an das Wohl aller – auch brav ausfüllen. Wer wollte einer Diktatur des guten Willens und der Volksgesundheit auch widersprechen?
Was sind die Lobeshymnen wert?
Gewinner sind die stillen Helden des Alltags, jene Menschen also, die trotz oder wegen der Krise auf dem Posten bleiben. Sie verkaufen Brot, bedienen die Kasse oder stehen am Wochenmarkt mit eigenen Erzeugnissen. Die Coronakrise zwingt zum Besinnen auf das Wesentliche, und dazu gehören Essen und Trinken. Der Einkauf zählt zu den Dingen, die wiederum den Tag strukturieren. Zu den stillen Helden gesellen sich die Pflegekräfte in Altenheimen, die Schwestern in Krankenhäusern und die Ärzte, die mehr oder minder gut geschützt an der medizinischen Front stehen.
Die Hochachtung vor der Arbeit im heilenden Bereich war schon immer vorhanden. Sie erfährt jetzt noch einen neuen Schub. Ob sich das auf kommende Gehaltsverhandlungen auswirkt, steht dagegen auf einem anderen Blatt. Wenn die Kassen leer sind, helfen auch vollmundige Lobeshymnen nicht weiter.
Wer ist wichtig und wer nicht?
Das Zauberwort dieser Tage ist kompliziert, es heißt Systemrelevanz. Wenn Worte so umständlich daherkommen, stecken oft schlichte Wahrheiten dahinter, die man freundlich umschreiben will. Die Systemrelevanz ist eine Vokabel aus dem Krisenwortschatz. Sie sortiert Lebensbereiche nach ihrem Beitrag für das Überleben. Systemrelevant sind beispielsweise Pfleger, Polizist oder Bestatter, denn sie dürfen und müssen weiterhin an Ort und Stelle arbeiten. Brot und Kartoffeln werden immer etwas zum Anfassen bleiben. Und Sicherheit wird nur durch körperliche Präsenz gewährleistet.
Dagegen verliert vieles, was unser Leben elegant und farbig einhüllt, plötzlich an Wert. Shopping, auch das ein Zauberwort, ist derzeit nicht möglich. Ganze Branchen liegen am Boden, die sonst von der Mode und davon lebten, dass eine Hose jedes Jahr ein bisschen anders aussieht als im Vorjahr. Das wichtigste Utensil ist derzeit nicht eine neue Jacke, sondern der Mundschutz. Er treibt das Paradox auf die Spitze: Eine Gesellschaft, die in der Frühjahrssonne sonst die warmen Sachen schichtenweise abwirft, bedeckt nun Mund und Nase.
Der Rollator verschwindet aus dem Straßenbild
Das härteste Manöver trifft derzeit alte Menschen. Unter der Rubrik „Risikogruppe“ werden sie noch stärker isoliert als bisher. Die funktionale Trennung nach wichtig/unwichtig trifft sie am härtesten. Natürlich geschieht dies nur, um sie vor Viren zu schützen, die von außen hereinkommen. Das verändert unser Straßenbild, der Senior am Rollator ist kaum mehr unterwegs und wenn, dann wird er kritisch beäugt. Warum wagt er sich überhaupt auf die Straße?
Solche Szenen sind gegen die Menschenwürde. Darauf macht auch ein Memorandum aufmerksam, das der Altersforscher Andreas Kruse mit dem badischen Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh auf den Weg brachte. Alte Menschen werden in Corona-Zeiten in eine Täterrolle gedrängt.
Bereits die Redewendung von der Risikogruppe ist ein Unwort. Es mag aus medizinischer Sicht korrekt sein, weil bejahrte Menschen anfälliger sind als junge. Doch als gängige Kategorie ist das Etikett eine Zumutung. Meist wird sie leichtfertig von Leistungsträgern ausgesprochen, die eines Tages selbst einmal ins Rentenalter eintreten. Wie wollen sie dann behandelt werden? Sicherlich nicht als Risiko, sondern als wertvoller Teil der Gesellschaft mit hohem Survival-Faktor. 80 Jahre alt muss man erst einmal werden.