Gruß und Abschied sind die Eckpunkte des menschlichen Umgangs. Ob man jemand mit Guten Tag, Grüß Gott, einem flotten Hallo oder mit Hi begrüßt, macht doch einen Unterschied. Nun hat sich unter dem Diktat von Corona ein neues verbales Zeremoniell eingebürgert: „Halten Sie Abstand“ und „Bleiben Sie gesund“ sagen die meisten, ohne dass es jemand angeordnet hätte. Es ist ernst gemeint.
Was kommt nach dem Klopapier?
Formeln wie diese sind Zeichen von menschlicher Schwarmintelligenz. In der Not schaut der Einzelne nicht nur auf seinen Vorteil, indem er Mehl und Hefe anhäuft in der Menge einer Großbäckerei anhäuft. Er schaut nach den anderen und wünscht ihnen Gesundheit – dass er sich nicht ansteckt und andere nicht ansteckt. Die säkulare Wunschgeste ist wechselseitig, Eigenwohl und Nächstenwohl sind verknüpft. Der andere, der Nachbar, bildet einen Teil des je eigenen Kosmos. Geht es dem Nächsten gut, so kann es auch mir gut gehen.
Es bleibt in diesen Tagen weitreichender Isolation nicht bei seltsamen Grüßen. Am auffälligsten ist die Entkörperlichung von Begegnungen. Zwei Menschen nehmen sich wahr – und ziehen zugleich einen unsichtbaren Kreis von mindestens drei Meter Durchmesser um sich. Rühre mich nicht an, so lautet die Devise, an die sich innerhalb von wenigen Tagen Millionen von Menschen gewöhnt haben, ohne dass bemerkenswerter Widerstand aufbricht.
Kollektive Vernunft? Gibt es
Der Abstand zum anderen wurde in kurzer Zeit eingeübt. „Social distancing“ funktioniert, und ein ganzes Volk von Individualisten zieht mit und schlägt weite Bögen. Fast alle unterwerfen sich dem Regime des Allgemeinwohls. Ein paar Unbelehrbare wird es immer geben. Die breite Mehrheit zieht mit. Von Wissenschaftlern wurde lange Zeit bezweifelt, dass ein kollektives Handeln möglich sei, das einer kollektiven Vernunft entspringt. Die letzten Tage stempeln diese Annahme zur Randnotiz. Unter dem Druck des Winz-Virus wird vieles zur Nebensache, was bisher als zentraler Lebensinhalt galt. Reisen, feiern, Vereine besuchen, das Bier in der Kneipe. All diese schönen Dinge, die den Tag vielfältig machen, verdampfen zum Nichts.
Der Dax wird gestutzt
Die neuen Grußregeln hat niemand verordnet. Stärker als jede amtliche Empfehlung wirkt die Seuche selbst – einer der Vier Apokalyptischen Reiter. Der Kurvenverlauf des Virus wird täglich mit Hingabe studiert. Vor dieser Furcht einflößenden Statistik mit den Rubriken von Infizierten und von Toten werden andere Kurven zum Nichts. Wetter? Oder Sonntagsfrage? Selbst der Dax, vor dessen Ausschlägen sonst immer gezittert wird, wird auf sein reales Maß gestutzt. Er bildet die Fieberkurve eines hitzigen Kapitalismus. Alles schön und recht, aber vor der Majestät des Todes zerfallen auch die Wall Street oder andere Handelsplätze. Es sind vergleichsweise lausige Ecken.
Sanfte Diktatur
Das Coronavirus wirkt auf das Land wie eine sanfte Diktatur. Sanft ist sie, weil die meisten Menschen inzwischen selbst einsehen, dass sie für einige Wochen auf geliebte Gewohnheiten verzichten müssen. Und Diktatur, weil es keine greifbare Alternative zu dem Bündel an Vorschriften gibt. Dass Bürger auf bewährte Grundrechte wie Freizügigkeit oder das Versammlungsrecht verzichten, wäre zu Beginn des Jahres undenkbar gewesen. Inzwischen erscheint es logisch und medizinisch zwingend. Ein asiatisches Virus hat die Herrschaft übernommen, es zwingt uns seine Gesetze auf und jagt vielen Angst ein. Man spricht von Hamsterkäufen und italienischen Krankenhäusern. Und man denkt: Könnte es mich auch treffen?