Nur 45 Prozent der Menschen in Deutschland haben noch das Gefühl, die politische Meinung könne in diesem Land frei geäußert werden. Das hat eine Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gerade ergeben. Allensbach fragt seit 1953 nach der Meinungsfreiheit – und nie war der Wert so niedrig wie heute.

Das ist aus mindestens zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen, weil die Fakten eigentlich eine ganz andere Sprache sprechen. Zum anderen, weil dies über den Zustand unserer Demokratie nichts Gutes aussagt.

Jeder sein eigener Verleger

Zunächst die Fakten. „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern“ – das hält Artikel 5 des Grundgesetzes fest. Es besteht wenig Anlass, an dessen Gültigkeit zu zweifeln. Die Presse kann in diesem Land in der Regel ihre Arbeit tun – auch wenn Behörden Journalisten immer wieder vertrösten und Informationen zurückhalten. Und trotz geschickter Versuche verschiedener Akteure, Journalisten einzuwickeln.

Vor allem aber haben die Bürger heute wie nie zuvor Gelegenheit, ihre Meinung selbst zu veröffentlichen. Jedermann kann heute sein eigener Verleger werden – und im Internet einen Blog schreiben. Mit deutlich weniger Aufwand lässt sich auf Facebook, Instagram und anderen sozialen Medien die eigene Sicht auf die Dinge unter die Leute bringen.

Facebook statt Stammtischrunde

Was früher allenfalls in der begrenzten Stammtischrunde verhandelt wurde, lässt sich heute ganz ohne Lautsprecher in die weite Welt des Internets hinausposaunen. Potenziell jeder, der seine Gedanken interessant genug zu verpacken weiß, kann heute zum Meinungsmacher werden. Wo liegt also das Problem?

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Wenn mehr als die Hälfte der Befragten das Gefühl hat, dass es mit der Meinungsfreiheit nicht mehr weit her ist, kann das nicht ganz aus der Luft gegriffen sein. Dazu muss man an dieser Stelle erklären, dass die Allensbacher Fragen nicht etwa auf Zensur abzielten, gemeint war vielmehr das gesellschaftliche Klima, in dem bestimmte Äußerungen inopportun erscheinen. Weil man fürchtet, dafür geächtet zu werden.

Mit mangelnder Meinungsfreiheit im engeren Sinne hat das also wenig zu tun. Denn man darf ja – anders als beispielsweise von Querdenkern oder Rechtsradikalen oft behauptet – sehr viel sagen in Deutschland, ohne rechtliche Schritte fürchten zu müssen. Man muss aber eben auch damit leben können, dass es dafür Contra gibt.

Der Mohrenkopf-Rassist

Dieses Contra allerdings kann sehr heftig ausfallen. Das hat auch mit den oben erwähnten Publikationskanälen zu tun, wo Meinungsbeiträge ein immenses Echo entfalten können – zustimmend, aber auch ablehnend. Und wo Freundes- und Feindeslinien schärfer gezogen werden als im persönlichen Gespräch. Wer nicht dafür ist, den Mohrenkopf aus dem Sprachgebrauch zu verbannen, der gilt schon als Rassist. Wer sich nicht impfen lassen will, ist ein Verschwörungstheoretiker. Wer noch an seinem alten Diesel festhält, ist eine Umweltsau.

Auch jenseits der sozialen Medien werden rigorose moralische Urteile gefällt – und das hat Folgen: Wenn beispielsweise Politiker für provokante Äußerungen möglichst umgehend aus der Partei geworfen werden sollen, hinterlässt das auch bei den Bürgern Spuren. Der Eindruck stellt sich ein, dass man bei heiklen Themen besser mal den Mund hält.

Die Rechten reiben sich die Hände

Besonders fällt ins Auge, wie sehr öffentliche Debatten von der dominierenden Meinung abweichen. Seien es die Umbenennung der Mohrenstraße, die – vermutlich unbeabsichtigte – Anspielung auf den Holocaust, die für einen Sportler das Ende der Fernsehkarriere bedeutet, oder auch das Gendersternchen: Die überwiegende Mehrheit der Befragten kann mit der Art, wie diese Themen in der Öffentlichkeit verhandelt werden, wenig anfangen. Und zwar über alle Berufe und Altersgruppen hinweg.

Das sollte zu denken geben – uns Medienschaffenden. Denn es besteht die Gefahr, mit dem um sich greifenden moralischen Rigorismus die Leute zu verprellen – ja, sie noch den Rechtsextremen in die Arme zu treiben. Deren Gerede von der angeblichen Meinungsdiktatur verfängt um so leichter, je weiter sich die öffentliche Debatte von den Ansichten der breiten Masse entfernt. Dabei brauchen wir die offene Diskussion mehr denn je. Wie sollen wir sonst verhandeln, wie unsere Welt in Zukunft aussehen soll?