Ein Experiment rückwärts: An Silvester 2019 saßen Sie in heiterer Runde beisammen. Man skizziert eine Reise fürs kommende Jahr oder plaudert über den Kauf eines Neuwagens. Und die guten Vorsätze. Einer am Tisch wird ernst, er unterbricht das Wunschkonzert für 2020 und hebt gedanklich ab: Er sieht Menschen mit maskierten Gesichtern, ahnt abgesagte Feste, geschlossene Schulen, leere Städte. Er prognostiziert Millionen von Menschen, die zuhause sitzen und dort arbeiten oder schon nicht mehr arbeiten. Eine geschlossene Gesellschaft.

Brenzlig wird es dort, wo Menschen auf engem Raum reisen. Diese Flugbegleiterin in Köln zeigt es.
Brenzlig wird es dort, wo Menschen auf engem Raum reisen. Diese Flugbegleiterin in Köln zeigt es. | Bild: Marius Becker

Man hätte diesen Schwarzmaler wohl ausgelacht. Zu Beginn eines neuen Jahres nur keinen Pessimismus! Niemand hätte es sich im Januar träumen lassen, dass sich ein „Einzelfall“ in China zur Pandemie ausweiten würde. Wenige Wochen später war klar, dass genau dieses eingetreten ist. Das Corona-Virus umklammert die Welt.

Das gilt, auch wenn die Beschränkungen stufenweise fallen. Kinder kehren in die Schule zurück. Das öffentliche Leben renkt sich ein wie ein verschobenes Gelenk. Mit Menschen ist das nicht so einfach. Sie sind nicht so gebaut, dass ein Druck auf die Reset-Taste genügt, um den Organismus frisch zu laden. Es gehört zur Größe des Menschen, dass er zwei Dinge besitzt, die der künstlich intelligente Computer nicht hat: Verwundbarkeit und Instinkt.

Wo geht‘s zur Hygiene-Station?

Der Instinkt warnt ihn vor Gefahren, indem er schlechte Erfahrungen speichert und im Hintergrund bereithält. Die Coronakrise ist eine solche Erfahrung – für viele eine Katastrophe. Sie hinterlässt ihre Spuren im Alltag und, noch einschneidender, im kollektiven Gedächtnis. Wir werden wieder ins Kino gehen, Autos kaufen und wieder nach Italien fahren. Doch die alte Unbefangenheit wird fehlen. Man wird nicht mehr selbstverständlich Hände schütteln, sich auf Parkbänke setzen oder Münzen entgegennehmen. Es könnte ja sein, dass...

Desinfektionsmittel werden zu Alltagsbegleitern. Gaststätten werden in Zukunft nicht mehr nach der Länge des Schnitzels oder dem Geschmack des Soja-Burgers beurteilt, sondern nach der Menge und Qualität der Hygiene-Stationen, die im Restaurant aufgebaut sind und die sorgfältig abgearbeitet werden.

Der soziale Abstand wird auf dem Bild gewahrt – aber besonders sozial und gesellig wirkt dieses Spiel in Bochum nicht.
Der soziale Abstand wird auf dem Bild gewahrt – aber besonders sozial und gesellig wirkt dieses Spiel in Bochum nicht. | Bild: Lars Baron

Ein neuer Typ von Zeitgenosse entwickelt sich in diesen Tagen: Er beobachtet andere und passt auf, dass Vorschriften eingehalten werden. Stimmt der soziale Abstand? Hat sie sich die Hände mindestens 30 Sekunden lang gewaschen? Mit der Gewissheit von Blockwarten nehmen sie ihre Umwelt unter die Lupe und rügen Verstöße. Die selbsternannten Kontrolleure öffentlicher Moral und Hygiene werden weit über die Krise hinaus agieren. Sie werden lauschen und achten, dass die hohen Standards umgesetzt werden.

Noch etwas bringt die Pandemie: neue Wörter, die über Nacht zum Allgemeingut werden. Lockdown, Spuckschutz, Reproduktionszahl. Klopapier war bisher schon bekannt und beliebt, doch erfuhr es in den ersten Tagen der Krise eine ungeahnte Aufwertung. Die vierlagigen Blättchen waren zeitweise begehrt wie spanischer Rotwein. Gefragt ist der Top-Virologe, dessen Einsichten ähnlich intensiv verfolgt werden wie früher die Tabelle der Fußball-Bundesliga.

Überlingen an Pfingsten. Die Promenade voll und die meisten Menschen ohne Masken. Wie geht es weiter?
Überlingen an Pfingsten. Die Promenade voll und die meisten Menschen ohne Masken. Wie geht es weiter? | Bild: Jürgen Gundelsweiler

Relevant sind alle

Was hält eine Gesellschaft zusammen? Eine Gruppe von Berufen, die schnell als systemrelevant erklärt wurden. Nicht nur Menschen werden nach gesund und krank sortiert. Auch das Arbeitsleben wurde einer harten Triage unterzogen. Systemrelevant sind Krankenschwester und Polizist, der Autobauer war es in den harten Coronawochen nicht. Der Mann von der Müllabfuhr war es, der Flugpilot nicht. Für einige Wochen wurde das soziale Gefüge vom Kopf auf die Füße gestellt. Offen bleibt bisher, ob die neue Ordnung bis zu den nächsten Tarifgesprächen hält oder ob es bei guten leeren Worten bleibt.

Der Mund-Nasen-Schutz setzt dem Fass freilich die Corona auf: Er wird die vergangenen Wochen spielend überleben und viele dauerhaft begleiten. Die Debatten über Kopftücher und Burkas sind Geschichte. Das bedeckte Gesicht ist angesagt.

Für das westliche Menschenbild ist das freilich verheerend. Wie stolz sind viele Europäer bisher auf ihr unverstelltes Gesicht, das offene Haar, den Lippenstift. Hinter einnässendem Stoff verschwinden jene Körperteile, die Menschen unverwechselbar ausmachen. Wir begegnen uns als maskenhafte Wesen, die gedämpft daherreden. Es ist wie venezianischer Karneval, nur ohne Prosecco.

Wenn gelegentlich behauptet wird, dass sich in der Not das wahre Gesicht des Menschen zeigt, dann stimmt das eben nicht. Die Not verhüllt die besten Gesichtszüge. Da helfen auch Blümchenmuster nicht weiter, mit denen mancher Virenschutz aufgehübscht wird. Er ist und bleibt widerlich. Der größte Silvesterwunsch wird 2020 sein: ein Jahr ohne Gesichtsvermummung.