Am politischen Stellenwert der Krim im russischen Krieg gegen die Ukraine können auch wir als Deutsche ohne Expertise und besonderes Hintergrundwissen uns den eigenen Lernprozess verdeutlichen. Lange, auch noch nach der umfassenden Invasion der russischen Truppen in das Nachbarland im Februar 2022, galt die ukrainische Rückeroberung der Krim als gänzlich aussichtslos, als ein Projekt jenseits alles Machbaren, als der Traum einer Nation, die in ihrer Empörung und Qual den Boden unter den Füßen verloren hat.
Wie man im offenen, privaten Gespräch merken konnte, war das auf unserer Seite keine hochmütige Gewissheit, sondern eine mitfühlende. Es war das Bild einer traurigen, einer tragischen Verranntheit und Verstiegenheit, das wir im Kopf hatten. Das Putin-Regime würde die spielend, fast widerstandslos und – ins russische Volk geschaut – geradezu triumphal gewonnene Krim nie wieder hergeben. Warum nicht, schien fraglos evident und ging im Narrativ der Machthaber zurück bis auf Katharina II. Die unangefochtene Verfügungsgewalt über die Krim mitsamt ihrem epochenübergreifenden Hafen der russischen Kriegsschiffe war unzweifelhaft eine rote Linie für Putin. Würde sie ernsthaft tangiert, stünde der Welt möglicherweise sogar der Einsatz von Atomwaffen ins Haus.
Heute ist sie ernsthaft tangiert. Aber es gibt sie gar nicht mehr: Die rote Linie des russischen Präsidenten – unterlegt mit Drohungen auf eine unabsehbare Eskalation der Kriegführung – muss sich irgendwie verflüchtigt haben. Und auch unsere Gewissheit oder Evidenz scheint sich verkehrt, umgedreht, gleichsam auf den Kopf gestellt zu haben. Denn sie lautet jetzt: Mit einer auf Dauer russisch besetzten Krim – und der damit verbundenen imperialen, auch militärischen Kontrolle über die ukrainischen Hafenstädte am Schwarzen Meer – wird die Ukraine als Nationalstaat, als europäische Demokratie und als exportorientierte Marktwirtschaft nie überleben. Wir folgen damit nur der Ukraine. Die selbst ja auch erst unter dem Schock der Massenverbrechen russischer Truppen nach dem gescheiterten Zugriff auf Kiew zu ihrer Kompromisslosigkeit gefunden hat, hierzulande in der Krimfrage zunächst noch als „Maximalforderung“ relativiert.
Es offenbarte sich bereits hier, dass dieser Krieg als ein rassistischer Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung konzipiert ist. Dass wir uns mit der Anerkennung des Wirklichen soviel Zeit gelassen haben, müssen wir schon mit uns selber ausmachen. Es gibt sonst weit und breit keinen Verantwortlichen dafür. Zunächst war es die auch bei uns heranreifende Einsicht, dass der kleine Geist mit dem übergroßen Selbstbild im Kreml nicht aufhören würde. Bei Licht betrachtet, war das schon die Lehre aus der russischen Aggression zwischen 2014 und 2022. Die sich in ihrer Verwandtschaft mit der NS-Politik Ende der 1930er-Jahre freilich bei uns nur mit einiger Mühe durchzusetzen vermochte. Es mutet paradox an: Aber was man von der eigenen Zeitgeschichte her so intim kennt, ist anscheinend nur unter erheblichen inneren Widerständen wieder zu erkennen. Man schiebt es lieber in eine grauenhafte Einzigartigkeit ab und neutralisiert es auf die Tour.
Der Autor war Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Konstanz.