Links neben dem Sessel steht ein Rollator. Das Gehen macht Franziskus seit Monaten zu schaffen. Der Papst sitzt, empfängt freundlich seinen Besucher. Er ist schwerer geworden in den vergangenen Jahren, schwerfälliger. Vor einer Woche, nach der Generalaudienz, schaffte Franziskus nicht einmal den Schritt hinauf auf das Papamobil. Das Oberhaupt der katholischen Kirche wurde im Rollstuhl davon geschoben.
Es ist ein Dienstag im März 2024. Ein Besucher, der später unter vier Augen von der Begegnung erzählen wird, ist vom Papst persönlich ins vatikanische Gästehaus Santa Marta bestellt worden. Das Thema der Besprechung ist ernst. Es geht um Missbrauch, eine katholische Sekte in Lateinamerika. Eigentlich sollten die zuständigen Vatikanbeamten sich der Sache widmen. Doch alles verlief im Sand, mal wieder. Erst, als Franziskus persönlich informiert wird, kommt Schwung in die Sache.
An der Wand im Besprechungssaal im Vatikan-Gästehaus Santa Marta, wo Franziskus lebt, arbeitet und empfängt, hängt das berühmt gewordene Gemälde der Maria Knotenlöserin. Es ist eine Kopie des Augsburger Originals. Die Knotenlöserin ist das Sinnbild seines Pontifikats. Der Papst ist körperlich angeschlagen, versucht aber immer noch persönlich die unzähligen Fragen im Dickicht der katholischen Kirche zu klären. Manchmal sorgt er auch selbst für Missverständnisse.
Franziskus‘ Ukraine-Sturm
Neulich löste Franziskus wieder so einen kleinen Sturm aus. Eigentlich wollte er sagen, der Krieg in der Ukraine solle endlich aufhören, die Konfliktparteien sollten Verhandlungen aufnehmen. Weil der Papst mit dem lockeren Mundwerk aber das Bild von der „weißen Fahne“ gebrauchte, gab es einen Proteststurm. Franziskus habe die Ukraine zur Kapitulation aufgefordert, hieß es. Es mag sein, dass sein Pontifikat zu Ende geht. Ruhig geworden ist es jedenfalls nicht um den Papst.
An diesem Dienstag erscheint eine Autobiografie, die man durchaus als eine Art Vermächtnis lesen kann. „Leben. Meine Geschichte in der Geschichte“ heißt das Buch, das der Papst zusammen mit dem italienischen Vatikanjournalisten Fabio Marchese Ragona verfasst hat. Franziskus ist 87 Jahre alt, gerade hat das zwölfte Jahr seines Pontifikats begonnen, von dem er einmal ausging, dass es „eher kurz“ sein würde. Zeit für Rückblicke, Zeit für Einordnungen. Endzeitstimmung im Vatikan?
Wer nur auf den Körper von Franziskus blickt, kann rasch zu dem Schluss kommen, dass es bald vorbei sein könnte. Seit Jahren plagt ihn der Ischias, 2023 zwang ihn eine Divertikulitis ins Krankenhaus. Das Knie schmerzt, Franziskus braucht Rollstuhl und Rollator. Ständig erkältet er sich, leidet immer wieder an Bronchitis. Öffentliche Ansprachen, etwa bei der Generalaudienz, halten andere für ihn.
Franziskus liebt Süßigkeiten, aber kann sich nur noch wenig bewegen. Sein Bauch ist sichtbar gewachsen in den vergangenen Jahren. Einen Grund, das Amt niederzulegen, sehe er nicht, schreibt der Papst in seiner Autobiografie. „Die Dinge würden sich ändern, wenn eine schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung einträte.“
„Kann schon noch paar Jahre gehen“
So schwerwiegend sind seine Beschwerden derzeit nicht. „Es kann schon noch ein paar Jahre so weitergehen“, sagt ein kundiger Vatikanbeobachter. Für den Fall des Falles hat Franziskus seine Rücktrittserklärung unterschrieben „und im Staatssekretariat hinterlegen lassen“, wie er selbst schreibt. Alles ist vorbereitet: „Sollte dies jemals eintreten, würde ich mich nicht als emeritierter Papst, sondern einfach emeritierter Bischof von Rom nennen lassen und nach Santa Maria Maggiore umziehen, um wieder die Beichte abzunehmen und den Kranken die Heilige Kommunion zu spenden.“ So kann man es nun nachlesen.
Im Zwiegespräch, so berichten es diejenigen, die Franziskus kürzlich persönlich getroffen haben, wirkt Jorge Bergoglio so einnehmend und energisch wie eh und je. Er kümmert sich persönlich um komplexe Fragen, macht Witze, benutzt Kraftausdrücke. „Es un desgraciado“, das ist ein Mistkerl, sagt der Papst unter vier Augen über einen spanischsprachigen Bischof, von dem er sich verraten fühlt.
Gut vorstellbar, dass Franziskus eigentlich genug hat von den Hofintrigen, Auseinandersetzungen, Demütigungen. Aber nein. So ist es offenbar nicht. Das Petrusamt sei „auf Lebenszeit“, schreibt Franziskus, abgehärtet von Tausenden Disputen. „Dieser Mann hat eine Nilpferdhaut“, sagt ein Argentinier in Rom, der ihm nahesteht.
Im Buch geht es ausführlich um die Familie Bergoglio und ihre piemontesischen Wurzeln. Franziskus erzählt seine eigene Geschichte und sein eigenes Denken an Weltereignissen entlang. Es geht um den Zweiten Weltkrieg, die Kubakrise, die Militärdiktatur in Argentinien, die Fußball-WM 1986. Damals war der 49 Jahre alte Bergoglio zu Gast bei einer Familie Schmidt in Boppard bei Bonn. Er schrieb seine Doktorarbeit, lernte Deutsch am Goethe-Institut, schaute Fußball und vertiefte seine Hingabe an das Bildnis der Maria Knotenlöserin, die ihm half, „alle meine Knoten zu lösen“.
Der Fall der Berliner Mauer spielt im Buch eine Rolle, die Terroranschläge vom 11. September 2001, die Weltwirtschaftskrise 2008 sowie der Rücktritt von Papst Benedikt XVI. im Februar 2013 – und wie Bergoglio seine eigene Wahl im folgenden Konklave lange nicht kommen sah. Als es die neuen Kleider anzulegen galt, will Franziskus in der Sixtinischen Kapelle gesagt haben: „Ich werde nur die weiße Soutane tragen und das Brustkreuz, das mich, seit ich Erzbischof bin, begleitet, und meine orthopädischen Schuhe werde ich behalten!“
„Ein Mädchen, dessen Schönheit mir den Kopf verdreht“
Aus dem Leben Jorge Bergoglios erfahren die Leser zuvor, wie es ist, wenn sich ein späterer Papst als Seminarist verliebt in „ein Mädchen, dessen Schönheit und Intelligenz mir den Kopf verdrehten“. Eine der prägenden Figuren für den jungen Bergoglio ist außerdem die Leiterin eines biochemischen Labors, Esther Ballestrino, eine überzeugte Kommunistin. In den 1950ern liest Bergoglio kommunistische Zeitschriften, die ihm Ballestrino gibt. Von Ballestrino habe er viel über Politik gelernt. „Dennoch habe ich die kommunistische Ideologie nicht übernommen“, sagt der Papst.
Doch die Gerüchte halten sich bis heute. „Selbst ein mit mir befreundeter Kardinal erzählte mir einmal, eine sehr gläubige Katholikin habe ihm anvertraut, ich sei der Antichrist. Und warum? Weil ich keine roten Schuhe trage! Doch wer über die Armen spricht, ist nicht automatisch Kommunist“, schreibt Franziskus. Aufschlussreich ist auch der Abschnitt über Bergoglios Zeit im argentinischen Córdoba (1990-1992). Zuvor hatte er die argentinische Provinz der Jesuiten geleitet, nun schickten ihn die Ordensoberen in die „Verbannung“.
„In diesen knapp zwei Jahren“, schreibt der Papst, „dachte ich viel über meine Vergangenheit nach, über meine Zeit als Provinzial, über die Entscheidungen, die ich egoistisch und aus dem Bauch heraus getroffen hatte, über die Irrtümer, die ich wegen meines autoritären Gehabes begangen hatte, sodass man mir schließlich vorgeworfen hatte, ultrakonservativ zu sein.“ Ultrakonservativ, Kommunist, Antichrist? Was denn nun? Wer ist Franziskus?
Kritik von allen Seiten
Auch heute hat der Papst viele Kritiker, auf allen Seiten. Die Links-Katholiken in Deutschland sind verbittert, dass er die Reformen des Synodalen Wegs ausbremst. Die Traditionalisten in Rom werfen Franziskus vor, das Papsttum zu zerstören. Seine Gegner bereiten sich bereits auf das nächste Konklave vor, mögliche Kandidaten werden geprüft.
Doch alle Kritiker sind einigermaßen machtlos gegenüber diesem scheinbar schwächelnden Papst. So ist das Abwarten zur großen Devise geworden. „Die Mao-Tse-Tung-Taktik“, nennt das der Buchautor und Vatikanbeobachter Marco Politi („Im Auge des Sturms“). „Sie warten am Ufer, bis der Leichnam des Feindes vorüber treibt.“
Die finale Abrechnung lieferte vor Wochen ein anonymer Kardinal auf der Webseite der konservativen „Nuova bussola quotidiana“. Als „Demos II“ schimpfte der Kritiker gegen den „autokratischen, zuweilen nachtragend wirkenden Regierungsstil; eine Nachlässigkeit in Fragen des Rechts; eine Intoleranz selbst gegenüber respektvoll geäußerten Differenzen, und – was am schwersten wiegt – ein Muster der Mehrdeutigkeit in Fragen des Glaubens und der Moral“.
Auch dieser Affront ließ Franziskus kalt. Er bräuchte „einmal die Woche einen Psychologen, wenn ich all dem nachgehen würde, was über mich gesagt und geschrieben wurde“, heißt es in der Autobiografie.
Doch immer noch bringt der angeschlagene Franziskus die Kraft auf für das eine oder andere Revolutiönchen. Die Erklärung Fiducia Supplicans aus dem vergangenen Dezember, die die Segnung homosexueller Partner erlaubt, ist so ein Beispiel. Undenkbar unter Johannes Paul II. oder Benedikt. Franziskus duldet sogar, dass die afrikanischen Bischöfe die Erklärung beinahe geschlossen ablehnen. Man müsse die Kultur jener Länder verstehen.
Franziskus hat der Kirche viel zugemutet. Sie wird sich wohl erst einmal erholen müssen von diesem Schwung. Hinter den Kulissen laufen längst die Vorbereitungen für das nächste Konklave. Ob es nach vorne gehen wird, zurück, oder die Kirche auf der Stelle tritt, ist ungewiss. Einig sind sich die Kenner nur darin, dass es die schwierigste Papst-Wahl seit Langem werden könnte.