Herr Kühnert, Sie sollen Regierender Bürgermeister in Berlin werden, hört man… Warum eigentlich nicht?

Das hat „Bild“ gemutmaßt und damit ist über die Seriosität des Gerüchts auch schon alles gesagt. Wir haben ja eine Regierende Bürgermeisterin: Franziska Giffey. Und mein klares Ziel ist, dass sie das bleibt.

Kann man das nach dem Wahldesaster der SPD den Wählern überhaupt noch antun?

Mit Franziska Giffey tun wir den Menschen in Berlin nun wirklich nichts an. Im Gegenteil! Sie ist geschätzt und das erfahrenste und seriöseste Gesicht der Berliner Landespolitik. Zweifelsohne erfordert unser enttäuschendes Wahlergebnis, dass wir politisch darauf reagieren. Es gibt für die SPD aber die Möglichkeit, den nächsten Senat in Berlin anzuführen. Jetzt laufen die Sondierungen.

Welche Konsequenzen muss die SPD aus dieser Wahl ziehen?

Die Unzufriedenheit, was Effizienz und Geschwindigkeit von politischen Entscheidungen und Prozessen angeht, sind an einen Kipppunkt gekommen. Manches wurde behoben, längst nicht alles ist hausgemacht, aber ich will nicht ausweichen: In den zentralen Feldern Wohnungsbau, Mobilitätswende, Verwaltung und öffentliche Sicherheit braucht es große, spürbare Sprünge. In der Wohnungspolitik heißt das beispielsweise, dass eine Politik, die nicht in der Lage ist, sich auf ein oder zwei große neue Wohnquartiere in Berlin zu verständigen, an den Erfordernissen der Stadt einfach vorbei agieren würde.

Und das kriegt man mit den Grünen hin? Bei der Mobilität ist man sich ja nicht einig.

Wir müssen aus diesem Entweder-Oder-Modus in unseren Großstädten rauskommen. Im Wahlkampf bin ich dauernd gefragt worden: Sind Sie fürs Auto oder fürs Fahrrad? So funktioniert eine Stadt doch aber nicht. Eine Stadt ist vielfältig mobil, erst recht, wenn darin vier Millionen Menschen wohnen. Die Mobilitätswende in der Innenstadt muss zweifelsohne heißen: mehr ÖPNV, weniger Autos. Am Stadtrand heißt Mobilitätswende oft, dass überhaupt mal regelmäßig ein Bus fahren muss, der aber meistens noch kein Auto ersetzen kann.

Wie sind Sie unterwegs in Berlin?

Meistens mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Das geht im Innenstadtbereich am zügigsten.

Sie sind jetzt seit gut einem Jahr Generalsekretär. Statt provokanter Äußerungen werden regierungstaugliche Statements von Ihnen erwartet. Wie schwer ist Ihnen die Umstellung auf die Rolle des SPD-Pressesprechers gefallen?

Ich bin nicht der Pressesprecher, weder der SPD noch der Regierung. Mein Job ist ein politischer. Er besteht unter anderem darin, unsere Programme und Konzepte weiterzuentwickeln, aktuell unter anderem zum Wandel und zur Zukunft der Industriepolitik in Deutschland. Die SPD ist heute ganz anders aufgestellt als vor drei oder vier Jahren.

Ich hätte meinen jetzigen Job vor vier Jahren nicht haben wollen und würde vielleicht meinen damaligen in der heutigen Situation nicht ganz so gut machen können. Die SPD hat damals unglaublich viel Fläche geboten, sich an ihr abzuarbeiten, sie aufzurütteln und ihr kaltes Wasser ins Gesicht zu kippen. Aber seither haben wir ja einiges geschafft und unser Comeback gefeiert. Wenn ich jetzt öffentlich meine Partei kritisieren würde, dann würde man mir zu Recht sagen: Du bist der Generalsekretär, dann mach es doch anders.

Was ist von diesem rebellischen Kevin Kühnert von damals übrig?

Das scheint mir ein Missverständnis und wohl auch ein Zerrbild mit Blick auf meine Amtszeit als Juso-Chef zu sein. Die begann ja damals mit einer Kampagne gegen die Große Koalition. Diese konnte man mutig finden, aber sicher nicht rebellisch. Es ist eine normale Auseinandersetzung in einer Partei, ob man eine Koalition eingehen will oder nicht. Ich stand ja auch damals nicht alleine da mit meiner Haltung.

Und auch später gab es öffentliche Diskussionen, die ich mitbetrieben habe, zum Beispiel über offensichtliche Ungerechtigkeiten in unserem Wirtschaftssystem. Das gehört zum öffentlichen politischen Diskurs, nicht nur für den Juso-Vorsitzenden. Dass ich also andauernd provoziert hätte, das habe ich anders erlebt. Sie werden wenige Menschen finden, die mich als illoyalen Spalter bezeichnen würden.

Das haben wir nicht behauptet.

Nein, aber es ist mir wichtig, dass ich mich nie aus Profilneurose an meiner Partei abgearbeitet habe, sondern immer aus einer sehr tiefen Zuneigung zur sozialdemokratischen Idee. Und weil ich davon überzeugt war, dass es dafür mehr Rückhalt gibt als die traurigen 14 Prozent, bei denen wir lange Zeit gestanden haben.

Wann hat sich Olaf Scholz das letzte Mal bei Ihnen beschwert, zum Beispiel über falsche Kommunikation?

Gar nicht. So ist Olaf Scholz nicht. Das, was nach außen über ihn gesagt wird, gilt auch nach innen. Er ist ein sehr beherrschter Mensch. Ich habe noch nie erlebt, dass Olaf Scholz laut geworden wäre.

Ganz selten mal gibt er einen Hinweis, einen ganz zurückhaltenden Hinweis, aus dem nie eine Erwartungshaltung spricht, diesen zu befolgen. Er hat kein Parteiamt inne und sieht sich auch als sozialdemokratischer Kanzler nicht in der Position, an die Parteispitze Arbeitsaufträge zu verteilen. Gerade deshalb arbeiten wir kooperativ.

Früher galten Sie nicht unbedingt als Scholz-Fan, wobei Sie dann seine Kandidatur doch unterstützt haben. Wie kam es zu dieser Kehrtwende?

In der Politik geht es nicht darum, Fan von irgendwem zu sein. Fan bin ich von Arminia Bielefeld, aber nicht von irgendeinem Politiker. Die Zusammenarbeit mit Olaf Scholz ist einfach belastbar, deshalb ist Vertrauen gewachsen. Und das ist doch etwas sehr Angenehmes.

Vertrauen ist leider selten in der Politik, aber in der SPD-Spitze haben wir uns das erarbeitet. Es zeichnet unser politisches Miteinander aus, im engsten Kreis zusammenzusitzen und zu wissen, dass hier offen über alles, wirklich alles gesprochen werden kann, dass nichts raus dringt und nichts übelgenommen wird.

„Sie werden wenige Menschen finden, die mich als illoyalen Spalter bezeichnen würden“, sagt Kevin Kühnert, SPD-Generalsekretär.
„Sie werden wenige Menschen finden, die mich als illoyalen Spalter bezeichnen würden“, sagt Kevin Kühnert, SPD-Generalsekretär. | Bild: Hanser, Oliver

Dann sind Sie zufrieden mit dem Kanzler?

Ja, ausdrücklich. Jeder bringt seine Persönlichkeit in ein Amt ein und niemand kann alle zufriedenstellen. Das, was heute häufig wehklagend über Olaf Scholz gesagt wird, dass er nicht genug Esprit versprühe und dass seine Reden nicht so spannend seien – das wird ja seit Jahren über ihn gesagt. In Hamburg hat das die Leute nicht davon abgehalten ihn zweimal mit extrem guten Ergebnissen zum Ersten Bürgermeister zu wählen.

Und bei der Bundestagswahl hat das die Menschen auch nicht daran gehindert, die SPD zur stärksten Partei zu machen. Vielleicht wird er keinen Bambi mehr in diesem Leben gewinnen, aber dieser Politiker-Typus, den er verkörpert, kommt bei vielen Leuten gar nicht so schlecht an. Erst recht in Krisenzeiten.

Scholz wird aber auch für seine zögerliche Haltung kritisiert, zum Beispiel bei den Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie haben ihn verteidigt. Wieso?

Weil ich sehr genau darum weiß, wie viele Leute erleichtert sind, dass er sich nicht von Stimmungen treiben lässt. Wir haben eine große Spannweite an Meinungen in der deutschen Gesellschaft zu diesem Krieg und zur Frage der Waffenlieferungen. Ich bin nicht dafür, bei so einer existenziellen Frage nur nach Umfragen zu gucken. Aber dass er es geschafft hat, dass sich sowohl Skeptiker, als auch energische Befürworter der Waffenlieferungen im Grundsatz hinter der Herangehensweise des Kanzlers versammeln können, ist eine nicht zu unterschätzende Leistung. Das hält unsere Gesellschaft auch zusammen.

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Eine Doku des NDR über Sie hat nach der Bundestagswahl 2021 für einigen Wirbel gesorgt. Haben Sie bereut, sich so offenbart zu haben?

Nein, es gab ja klare Spielregeln bei dieser Dokumentation. Wenn ich oder ein anderer Beteiligter wollte, dass die Kamera raus soll, dann musste sie raus. Spielregel Nummer zwei: Ich konnte im Nachhinein, außer unmittelbar nach einer Situation, nichts mehr streichen lassen. Ich habe keine einzige Sekunde dieser Doku gesehen, bevor sie der Öffentlichkeit präsentiert worden ist. Und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass politische Abläufe solche Blicke durchs Schlüsselloch brauchen. Auch um zu zeigen, dass vieles glücklicherweise recht bodenständig ist. Der House-of-Cards-Faktor in der deutschen Politik ist doch sehr, sehr niedrig.

Haben sich Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans je beschwert? Die wurden von Ihnen gecoacht, wie die Aufnahmen zeigen. Wirklich souverän wirkten die beiden nicht.

Diese Szene ist einfach eine ehrliche Szene. Da waren zwei, die plötzlich gute Chancen hatten SPD-Vorsitzende zu werden. Sie hatten aber überhaupt keine Talkshow-Erfahrung, ich schon. Dann teilt man Erfahrungen miteinander, ist doch klar.

Ich glaube, wir hatten damals so eine Ahnung, dass wir in der Phase auch SPD-Parteigeschichte auf Band festhielten. Das war ja ein großes Ding, dass da in der ältesten und größten demokratischen Partei in Deutschland in einem Basis-Wettbewerb zwei weitestgehend Unbekannte zu Parteivorsitzenden wurden.

Ihre politische Laufbahn hat eher ungewöhnlich begonnen. Sie haben lange im Callcenter gearbeitet und zwei Mal studiert, allerdings ohne Abschluss. Kommt bei Ihnen heute noch viel Kritik deswegen an?

Kaum, aber ich begegne dem auch sehr klar: Ich bin vor anderthalb Jahren in den Deutschen Bundestag gewählt worden und habe dafür bei mir in Berlin Tempelhof-Schöneberg fast 50.000 Erststimmen bekommen. Die Leute haben mich zu ihrem direkt gewählten Abgeordneten bestimmt, weil ich ihre Interessen glaubwürdig vertrete. Und ich bin dabei ein offenes Buch, habe nie aus meinem Lebenslauf ein Geheimnis gemacht.

Manche Maskenskandale haben übrigens gezeigt, dass auch beste formale Bildungsabschlüsse und damit verbundene Jobperspektiven nicht davor schützen, dass charakterliche Untauglichkeit zu Tage tritt. Die erwirbt man nämlich nicht an der Uni, sondern das ist eine Frage der Persönlichkeit.

Fünf Stunden Schlaf reichen Ihnen aus, haben Sie kürzlich verraten. Pro Nacht. Ansonsten arbeiten Sie rund um die Uhr?

Natürlich habe ich auch Freizeitphasen. Bei uns in der Politik sind die Übergänge fließend. Einen Feierabend, bei dem mit dem Verlassen des Büros Schluss ist, gibt es bei mir aber nicht. Der Job ist sehr raumgreifend, die Politik aber gleichzeitig mein Hobby. Es ist und bleibt ein großes Privileg, das machen zu dürfen.

Was treibt Sie an?

Ich habe einen Gerechtigkeitsfetisch. Ich kann Ungerechtigkeiten nicht gut ab und habe so ein bisschen die Mentalität „ganz oder gar nicht“. Wenn ich mich irgendwo einbringe, dann voll und ganz. Man sieht anderen beim Arbeiten zu und denkt sich, das und jenes könnte irgendwie besser laufen. Und dann muss man sich unweigerlich die Frage stellen: Warum versuchst du es nicht selbst? So kam eins zum anderen und heute darf ich für andere um mehr Gerechtigkeit kämpfen. Was gibt es schöneres?