Der Große Preis von Aserbaidschan ist so umstritten wie das Land selbst. Der Stadtkurs am Kaspischen Meer aber sorgt oft für die spannendsten, verrücktesten und gefährlichsten Rennen der Saison. Diesmal sind die Titelrivalen Max Verstappen und Lewis Hamilton am Ende die punktlosen großen Verlierer. Sieger Sergio Perez im Red Bull-Honda und Sebastian Vettel auf dem zweiten Rang sind die sensationellen Gewinner. Reifenhersteller Pirelli muss sich nach gleich zwei spektakulären Platzern Fragen nach der Sicherheit gefallen lassen.
Der Fahrer des Tages
Zweites Stadtrennen in Folge, zum zweiten Mal ist Sebastian Vettel in den Punkten – so weit oben auf dem Podium stand er zum letzten Mal im Herbst 2019, und das von Startplatz elf aus. Bei der Zieldurchfahrt stottert der Hesse vor Freude: „Ha, ha, ha, ha“, „Yes, Yes, Yes“, „Yeah, Yeah, Yeah“. Und freut sich über die Versöhnung mit seinem Dienstwagen: „Das Auto war unglaublich, der Schlüssel zum Erfolg war das gute Tempo.“ Der vierfache Weltmeister selbst macht auch einen perfekten Job beim Reifenschonen, so konnte er Position um Position nach vorn kommen. „Ich fühle mich wie auf Wolke sieben“, frohlockt der 33-Jährige. Er wird zum Fahrer des Tages gewählt.
Ein Platzer mit Folgen
Drei Runden nur noch bis zum zweiten Sieg in Folge für Max Verstappen, 18 Kilometer bis zum Ausbau der Führung in der Weltmeisterschaft. Der Niederländer im Red Bull fährt schnellste Runden nach Belieben, hinter sich weiß er den Teamkollegen Sergio Perez als Puffer vor seinem Titelrivalen Lewis Hamilton im Mercedes. 15 Punkte Vorsprung wären das plötzlich in der Gesamtwertung, und die Gewissheit, dass sein Rennwagen dem Mercedes mehr als ebenbürtig ist.
Doch eingangs der Start- und Zielgeraden beginnt sein Auto bei einem Tempo jenseits der 300 km/h plötzlich unruhig zu werden, die Reifen hinten beginnen zu walken, der linke löst sich von der Felge. Die Folge: Verstappen ist nur noch Passagier, während das Auto wie wild kreiselt und in die Banden einschlägt. Verstappen selbst passiert nichts, er wirft das Lenkrad aus dem Cockpit, windet sich aus den Gurten, tritt wütend gegen den Platten.

Es ist nicht die erste lebensgefährliche Situation am Kaspischen Meer. Schon nach 30 Runden hatte es einen praktisch identischen Crash gegeben, der Kanadier Lance Stroll hatte sich als Marathonmann bis auf den vierten Rang vorgeschoben. Auch bei ihm platzt der Reifen hinten links ohne Vorwarnung, die verzweifelten Lenkversuche nutzten nichts, der Aston Martin dreht sich in die Barrieren.
Kein Abbruch, sondern stehender Start
Nach Verstappens Crash ist die Sorge bei allen groß, dass die Konstruktion der Pirellis trotz eines erhöhten Reifendrucks offenbar ein Haltbarkeitsproblem auf den Straßen Bakus haben. Red Bull drängt bei der Rennleitung auf Konsequenzen. Statt einer Safety-Car-Phase bis zur Zielflagge kommt der Abbruch. Wären die letzten zwei Runden nicht mehr gefahren worden, hätte Verstappen den Sieg behalten – gewertet wird in diesen Fällen immer der Stand der Runde zuvor. So aber dürfen die verbliebenen 17 Autos noch einmal zu einem stehenden Start raus, bereit für das finale Drama. Nach dem Stress für die Gummis nun der für die Rennfahrer, alle aus Sicherheitsgründen mit frischen Reifen ausgerüstet.
Sergio Perez steht kurz vor seinem ersten Sieg im Red Bull, aber auch am meisten unter Druck. Lewis Hamilton wittert wieder seine Chance, auch Sebastian Vettel als Dritter kann sich noch größere Hoffnungen machen, als er sie bei seinem bislang besten Auftritt im Aston Martin ohnehin schon hatte. Eine Aufwärmrunde, dann stehender Start für die entscheidenden drei Minuten des sechsten WM-Laufs. Statt der harten Gummis haben sie jetzt weiche Pneus drauf: Jetzt sind die Sprinter gefragt. Am Mercedes-Boxenfunk wird diskutiert, dass der Titelkampf ein Marathon ist, kein Sprint. Safety first?
Doch der Brite übertreibt es. Mit rauchenden Bremsen nach dem Start kommt er zwar in einem Rad-an-Rad-Duell an Perez vorbei, doch der Grip fehlt – im ersten Knick muss er geradeaus in den Notausgang. Hamilton, dem 99. Sieg seiner Karriere so nah, landet auf Rang 15, noch hinter dem auf Platz 13 gewerteten Mick Schumacher. Ein weiteres desaströses Wochenende für Mercedes. Wenn man so will, aber auch ein Stück ausgleichende Gerechtigkeit, in der Gesamtwertung führt Verstappen weiter mit 105:101 Punkten. „Es tut mir leid für Max“, sagt Sieger Perez. Von unten klatscht ihm Verstappen bei der Siegerehrung zu, die wahren Gefühle hinter einer orangefarbenen Maske verborgen.