Vielleicht ganz gut, dass Oliver Kahn den Presseraum der Mainzer Arena nicht mehr betrat. Womöglich hätte sich der Vorstandschef des gedemütigten FC Bayern am Samstagabend auch noch den Scherzbold vorgeknöpft, der die Stecktabelle am Pfeiler verrückt hatte. An erster Stelle hing da nämlich plötzlich der FSV Mainz 05, während das Täfelchen von Bayern München auf Rang acht gerutscht war.
Eben eine solch bissige Frage hatte Kahn kurz zuvor aufgeworfen: „Wer war jetzt die Mannschaft hier, die Deutscher Meister werden wollte? Die hatte zwar auch rote Trikots, aber das war ganz bestimmt nicht unsere Mannschaft!“ Jeder einzelne Spieler, schimpfte der frühere Weltklassetorwart, müsste sich mal fragen, welchen Einsatz und welche Bereitschaft er mitbringe: „Alles was den Fußball ausmacht, hat bei uns gefehlt.“
Platz an der Tabellenspitze verloren
Die Folgen sind fatal: Nach dem 1:3 beim Underdog Mainz hat der Branchenprimus aus München nach dem Aus in DFB-Pokal und Champions League auch die Pole Position in der Bundesliga verspielt. Und allmählich dämmerte dem Boss, dass keine Korrekturmaßnahme mehr fruchtet: „Gespräche, Spieler, System, Taktik, Trainerwechsel: Zum Schluss sind es elf Mann, die sich auf dem Platz für die Ziele dieses Klubs den Hintern aufreißen müssen.“
Eine Saison ohne Titel droht
Der FC Bayern durchläuft gerade die größte Krise der jüngeren Vergangenheit. Erstmals seit 2012 droht eine Saison ohne Titel, was Kahn bereits als „Katastrophe“ bezeichnete. Wenn so viel schiefläuft, dann steht auch die Führungsetage in der Verantwortung. Doch der von seinen Vorgängern Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß behutsam aufgebaute 53-Jährige denkt gar nicht an Rückzug. „Für mich gibt es nur ein einziges Ziel: Diese Saison rumzubringen und zwar mit dem deutschen Meistertitel, um dann nächste Saison noch mal richtig anzugreifen“, versicherte Kahn im ZDF.
Viel eher müsste ja eigentlich Sportvorstand Hasan Salihamidzic hinterfragt werden, der von einem „Tiefpunkt“ sprach. Ansonsten blieb der 46-Jährige wie so oft an der Oberfläche. Man habe nach der Führung durch Sadio Mané (29.) das Spiel „grundlos aus der Hand gegeben“. Dass Salihamidzic hernach weitere „Gespräche“ zur Ursachenforschung ankündigte, während Kahn in seiner siebenminütigen Wutrede betont hatte, es sei genug geredet worden, sprach Bände.
Ein Kommunikationsdesaster
Dieser Klub ist bisweilen ein Kommunikationsdesaster. Der von Salihamidzic massiv überschätzte Kader ist gerade dabei, mit Thomas Tuchel dem nächsten renommierten Fußballlehrer unlösbare Rätsel aufzugeben. Dessen Eingeständnis: „Die Punkte gehen weg wie Sand durch die Hände.“
Die Ablösung von Julian Nagelsmann ist längst als blanker Aktionismus entlarvt. Der Nachfolger hat in sieben Spielen so viele Pleiten eingesammelt wie sein Vorgänger in 37 Partien und schien sich erstmals zu fragen, was er sich mit der Mission zugemutet hat. „Es kämpft jeder mit sich selbst. Es fehlen Mittel, Energie und Wille sich aufzulehnen“, klagte Tuchel, der eine Mannschaft beobachtete, die so „ausgelaugt“ wirke, als habe sie „70, 80 Spiele“ in den Knochen. Der 49-Jährige hat deshalb bis Mittwoch freigegeben, alle Beteiligten sollten „ein bisschen Abstand kriegen“. Er selbst sah dabei am wenigsten frisch aus. Die ersten dreieinhalb Wochen, so ging sein Versprecher, hätten sich wie dreieinhalb Jahre angefühlt.
Tuchel verfällt in Schockstarre
Ausgerechnet dort, wo ihn am Vorabend sein Förderer Volker Kersting, der Mainzer Direktor Nachwuchsfußball, im Teamhotel besucht hatte, befiel ihn erstmals ein Gefühl der Ohnmacht. Vor 14 Jahren hatte man Tuchel nach einem gewonnenen Finale der Mainzer A-Junioren gegen Borussia Dortmund zum Profitrainer befördert – vor der Neuauflage dieses Endspiels mutierte die Vorzeigefigur aus der Trainerschmiede zum Mister Ratlos. Die Lederhosen-Hohngesänge hallten in die Katakomben, als Tuchel ein Nullfünfer-Unikum wie Werner Wehner umarmte.
Zuvor hatte er seinem Ex-Klub den Gefallen getan, seine Elf mit unnötigen Umstellungen noch mehr zu verwirren. Auch der Verzicht auf Leroy Sané und Kingsley Coman wirkte irritierend. Der nach dem Champions-League-Hinspiel bei Manchester City (0:3) noch „schockverliebte“ Trainer schien selbst in Schockstarre zu verfallen – verkroch sich die meiste Zeit unter der Trainerbank, während sein Ziehsohn Bo Svensson aktiv coachte. Was Tuchel als Diagnose anbrachte, klang bitterböse: „Es plätschert so dahin. Ich habe das Gefühl, wir spielen alles auf derselben Tonlage durch – und entweder reicht das dann oder nicht. Ganz banal, dann muss auch mal ein Ball auf die Tribüne.“ Der Verein mit „dem besten Kader, den höchsten Etat der Liga“ (Tuchel) beschäftigt inzwischen zu viele satte Stars. Wo ist die Gier nach dem Gewinnen hin?
Es fehlt ein Manuel Neuer
Siegeshungrige Anker wie einst Manuel Neuer oder Robert Lewandowski sind nicht mehr zu erkennen. Torwart Yann Sommer patzte vor dem 1:1 des Mainzer Torjägers Ludovic Ajorque (65.), danach verlor Josip Stanisic vor dem 1:2 von Leandro Barreiro (73.) die Orientierung, dann leistete sich Leon Goretzka einen Querschläger vor dem 1:3 von Geburtstagskind Aarón Martin (79.). Der überschätzte Goretzka führt die Fraktion der Möchtegern-Führungsspieler an, deren Fehlpassquote ebenso erschreckend wirkt wie die Teilnahmslosigkeit. Und wo bitte war Joshua Kimmich in der heiklen Phase? Einer, der die Kapitänsbinde der deutschen Nationalmannschaft dauerhaft tragen möchte, spielt viel zu oft nur den Mitläufer.
Zu viele Fehler
Und auch Thomas Müller hat seine besten Passagen erst dann, wenn der Wortführer ans Mikrofon tritt. „Man hat über 90 Minute gesehen, dass wir die Rückschläge und Negativerlebnisse nicht abschütteln können.“ Der 33-Jährige war auf dem Platz mal wieder keine Hilfe, weil ihm reihenweise technische Fehler („ich war mit dem Ball sehr unsauber“) unterliefen. Die Bayern, so viel ist gewiss, brauchen im Sommer größere Korrekturen. Ob das auch für die Führungskräfte Kahn und Salihamidzic gilt, ließ der Aufsichtsratsvorsitzende Herbert Hainer im Erdgeschoss der Mainzer Arena offen: „Wir konzentrieren uns erst einmal auf die deutsche Meisterschaft. Das wird schwer genug sein. Über alles andere reden wir dann später.“