Es ist keineswegs ein Zeichen von Missachtung, dass die Gesichter der deutschen Nationalspieler nicht mehr auf Anhieb jedem Fan geläufig sind. Umso wichtiger sind unverwechselbare Figuren, die deshalb ja auch bei Auftritten der DFB-Auswahl vorrangig auf Plakaten und Leuchtbildern gezeigt werden. Und gerade das Konterfei von Manuel Neuer findet sich überall.
Eine fast schon zeitlose Figur der Nationalelf, die allerdings genauso die guten wie die schlechten Zeiten des deutschen Aushängeschildes verkörpert. Trotz unbestreitbaren Verdiensten und höchstem Wiedererkennungswert wird gerade über ihn am meisten diskutiert.
Das liegt in erster Linie an den Leistungen einer Nummer eins, die schlicht nicht mehr wie ein fünffacher Welttorhüter hält. Ausgerechnet eine deutsche Domäne gibt sich vor dem Heimturnier wenig standfest. Der 38-Jährige hat mit seinem Aussetzer gegen Griechenland fast zwangsläufig die Torwartdebatte befeuert, auch wenn er natürlich nur am Ende einer langen Fehlerkette stand.
Wenig Hang zur Selbstkritik
„Grundsätzlich muss ich den Ball besser wegbringen, das steht fest für mich, das habe ich auch sofort gemerkt“, sagte Neuer. Zu weiteren Eingeständnissen wollte er nicht durchringen. Der Hang zur Selbstkritik war beim 38-Jährigen noch nie sehr ausgeprägt. „Bei beiden Spielen finde ich, dass ich gute Leistungen gezeigt habe. Und so gehe ich auch in die Gruppenphase“, betonte der Tormann des FC Bayern. Ende der Durchsage.
Nachfragen in der Mixed Zone in Mönchengladbach ersparte sich der Keeper, der bislang auch noch bei keiner Pressekonferenz erschien. Ohne Kapitänsbinde geht das, es sagt aber auch etwas über die verlustig gegangene Souveränität aus. Sein vielleicht wichtigster Beschützer ist gerade der Bundestrainer, der dem gebürtigen Gelsenkirchener einen Sonderstatus einräumt: Julian Nagelsmann geht über die angehäuften Missgeschicke der jüngeren Vergangenheit locker hinweg.
Neuer hat gegen Real Madrid in der Champions League und im Bundesliga-Finale bei der TSG Hoffenheim gepatzt; beim Nationalelf-Comeback gegen die Ukraine verstörte ein missglückter Chip. Und nun ging sogar einfachstes Handwerk schief. Trotzdem wollte Nagelsmann den Fehler „nicht bewerten, nicht analysieren, noch daran herumdoktern“.
Seine Verteidigungsrede: „Ich nehme keine Selbstzweifel bei ihm wahr. Das ist wichtig. Ich lasse keine Diskussion aufkommen. Er hatte drei Weltklasseparaden, die hält nicht jeder. Er hat mein Vertrauen.“ Übrigens auch das der meisten Mitspieler. Siegtorschütze Pascal Groß geriet ins Schwärmen, als er auf Neuer angesprochen wurde. „Ich bin begeistert, wie gut er ist. Das habe ich so in meiner Karriere noch nicht erlebt.“ Offenbar verströmt die deutsche Instanz unter der Latte selbst im Alltag immer noch eine Aura, die weder durch die schwache WM in Katar noch den komplizierten Beinbruch gelitten hat.
Umfrage sieht ter Stegen vorne
Die Häufung an Fehlern ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. In seiner Nibelungentreue zu Neuer bringt sich Nagelsmann selbst in die Bredouille. Grundsätzlich sollte doch „jeder Deutsche ein Interesse daran haben, dass jeder Spieler gefestigt und stabil spielt“. Eine eigentümliche Schlussfolgerung, um das Leistungsprinzip außer Kraft zu setzen. Jeder Wackler wird so auch auf den Trainer zurückfallen.
Zumal es mit Marc-André ter Stegen ja eine Alternative gäbe. In einer aktuellen Umfrage des Fachmagazins „Kicker“ votieren 83 Prozent dafür, dass Deutschland mit dem Keeper des FC Barcelona die EM bestreiten sollte. Hochspannend, was so ein öffentliches Misstrauensvotum mit Manuel Neuer bei seinem achten Turnier macht.