Es ist unsicher, ob sich ein deutscher Kanzler im Lauf der Jahrzehnte schon einmal nach Immendingen verirrt hat. Dass er von so weit her kam, ist indes gänzlich unwahrscheinlich. "Accra, Marseille, Skopje, Wien, Algier – und jetzt Immendingen", sagt Daimler-Chef Dieter Zetsche und blickt leicht verschmitzt in Richtung Angela Merkel. "Da haben Sie ja jetzt alle wichtigen Orte der Weltgeschichte besucht."
Das Regierungsoberhaupt und der altgedienteste deutsche Autoboss halten Hof. Die Stimmung grenzt an Ausgelassenheit. Zetsche frotzelt, Merkel lächelt. Ungewöhnlich in diesen Zeiten, aber dem Anlass auch irgendwie angemessen. Immerhin geht es an diesem Nachmittag ausnahmsweise einmal nicht um den Diesel-Skandal oder die Weiterverwendung von zum Problem gewordenen Verfassungsschutzpräsidenten, sondern um etwas Erfreuliches.
Gestern hat Daimler in Immendingen das größte Test- und Technologiezentrum eingeweiht, das der Autohersteller jemals gebaut hat. Und zwar nicht im Silicon Valley oder in Singapur, sondern in der süddeutschen Provinz. "Immendingen als Standort ist für uns wie ein 6er im Lotto", sagt Zetsche. Auch wenn wir mehr als 200 Millionen Euro investiert haben.
In den kommenden Jahrzehnten wird Daimler hier Zukunftstechnologien testen, insbesondere autonom fahrende Autos und neue Antriebe wie Hybride oder E-Mobile. Als gesichert gilt, dass kein Mercedes, Smart oder Fahrzeug der neuen Elektro-Marke EQ jemals einen Meter auf einer öffentlichen Strasse zurücklegen wird, ohne auf dem 520 Hektar großen Areal auf Herz und Nieren getestet worden zu sein. Es gibt hier Schikanen, Haarnadelkurven, Kreuzungen, Kreisverkehre, Sackgassen, Überholspuren, und in einem gesonderten Teil können komplzierte Fahrsituationen in Innenstädten nachgestellt werden. Kern des Ganzen ist das sogenannte Betha-Areal, wo Daimler hochautomatiert fahrende Vehikel ins Rennen schickt. "Prototypen statt Panzer", sagt Zetsche in Anspielung auf das alte Militärgelände, das Daimler zur High-Tech-Bastion ausbaut. Am Ende sollen Automobile stehen, die "unfallfrei, emissionsfrei und stressfrei" fahren, wie der Daimler-Chef sagt und zugleich "sexy" sind.
Der Kanzlerin scheint das zu gefallen. Der neue Daimler-Forschungsstandort sei ein Beispiel "für einen gelungenen Strukturwandel", sagt sie vor rund 200 Gästen auf dem Testareal. Die geografische Lage – nur rund eine Autostunde von Stuttgart entfernt – bezeichnet sie als "perfekt". Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) spricht gar vom "Innovationsland Nummer eins in Europa", das hier dank derartiger Projekte Gestalt annehme. CDU-Fraktionschef Volker Kauder, der bei der Festveranstaltung ebenfalls mit Merkel in der ersten Reihe sitzt, schweigt hingegen. Dabei war er es, der hinter den Kulissen die Strippen gezogen hat, um die Teststrecke an die Donau zu holen. Nicht ohne Hintergedanken natürlich. Sein Wahlkreises liegt hier – in den Landkreisen Rottweil und Tuttlingen.
Die alte Garnisonsstadt, die nach dem Abzug der Franzosen zur Geisterstadt mutierte, erblüht derweil. Mehr als 300 Jobs entstehen direkt auf oder an der Teststrecke. Immendingens Bürgermeister Markus Hugger rechnet sogar mit 900 bis 1000 zusätzlichen Jobs, etwa bei Zulieferbertrieben, im Dienstleistungsbereich oder im Handel. "Jetzt haben wir ein positives Problem", sagt Hugger. "Wir haben keine Bauplätze mehr." Kein Wunder: 800 Menschen sind neu in die Gemeinde gezogen, seit Daimler hier seine Runden dreht. Viele Daimlerianer sind seither von Stuttgart nach Immendingen übergesiedelt. Der Bodensee ist nah und mit der Donau und den Hegauvulkanen liegen beliebte Ausflugziele sogar in Wurfweite.
Daimler ist übrigens nicht der erste Konzern, der im Süden Baden-Württembergs an der Zukunft forscht. Der Zulieferer ZF hat in Friedrichshafen seine Konzernforschung. Nur einen Katzensprung entfernt entwickelt Konkurrent Continental seine Sensortechnologie. Und mit Thyssen-Krupp forscht ein weiterer Dax-Riese in Rottweil am Aufzug der Zukunft. Der dafür gebaute 246 Meter hohen Testturm, hat sich ganz nebenbei zu einem Publikumsmagneten mit über 100 000 Besuchern pro Jahr entwickelt.
Besonders attraktiv wird die Region auch durch Universitäten und Fachhochschulen, die für den dringend benötigten fachkräftenachwuchs sorgen. Und nicht zuletzt sind in Freiburg und Stuttgart insgesamt 12 Fraunhofer-Institute angesiedelt, die Spitzenforschung betreiben. Immendingen liegt da genau in der Mitte.
Auch Merkel schenen die Vorzüge der Region zu überzeugen. Die Kanzlerin, die den Namen der Gemeinde erstmals hörte, als Parteifreund Kauder "kräftig über den Abzug der Franzosen schimpfte" will wiederkommen, sagt sie. "Sobald hier alles E-Mobil-fähig geworden ist."
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