Herr Holdmann, ZF will in den kommenden Monaten eine ganze Reihe von neuen Technologien ins Fahrzeug bringen. Was haben Sie genau vor?

Peter Holdmann: Das Automobil entwickelt sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit weiter. Das betrifft fast alle Bereiche, etwa den Antrieb, die digitale Vernetzung, aber auch das Fahrwerk, also den Bereich, für den ich innerhalb des ZF-Vorstands verantwortlich bin. Die E-Mobilität sorgt dafür, dass die Autos immer schwerer und die Radstände immer länger werden. Das Auto wird damit per se behäbiger, aber das will der Kunde natürlich nicht.

Und ZF macht diesen Fahrzeugen jetzt sozusagen wieder Beine?

Holdmann: Tatsächlich ermöglichen es unsere Technologien, dass Autos in Zukunft sogar noch agiler, komfortabler, aber auch sicherer werden.

Elektro-Flaggschiff ET9 der Marke Nio: Als erstes Serienfahrzeug stattet ZF das Auto mit einem echten Steer-by-Wire-System für die ...
Elektro-Flaggschiff ET9 der Marke Nio: Als erstes Serienfahrzeug stattet ZF das Auto mit einem echten Steer-by-Wire-System für die Lenkung auf dem chinesischen Markt aus. Lenken wird so spielend einfach, sagen die Entwickler. | Bild: Felix Kästle, dpa

Wie das?

Holdmann: Immer mehr Hersteller statten ihre Modelle beispielsweise mit Hinterachslenkungen aus. Dabei schlagen nicht nur die Räder vorne, sondern alle Räder ein. Wer schon einmal mit einem SUV in einem Parkhaus versucht hat, einzuparken, wird merken, dass das ziemlich eng wird. Unsere Systeme schaffen Abhilfe, weil sie den Wendekreis großer Fahrzeuge aufs Niveau von Kleinwagen bringen.

Gleichzeitig bringt die Technik mehr Sicherheit, etwa beim schnellen Durchfahren von Kurven oder auf schlüpfrigem Untergrund, da die auftretenden Kräfte besser aufs gesamte Fahrwerk verteilt werden. ZF ist in dieser Technologie mit großem Abstand Weltmarktführer. Drei von vier verbauten Hinterachslenkungen stammen von ZF.

Weitere Schlagworte heißen Brake-by-Wire und Steer-by-Wire, was so viel wie rein elektrisches Bremsen und Steuern bedeutet. Letzteres kennt man von Flugzeugen. Wie wird das im Auto eingesetzt?

Holdmann: Rein elektrisches Steuern und Bremsen sehen wir als künftige Schlüsseltechnologien. Dabei werden mechanische Verbindungen in der Lenkung beziehungsweise zur Bremse durch eine Softwaresteuerung ersetzt. Eine Lenksäule gibt es bei dieser Art von Fahrzeug beispielsweise nicht mehr. Das hat erhebliche Sicherheitsvorteile für die Insassen, etwa bei Unfällen. Man gewinnt deutlich mehr Platz für die Knautschzone.

Unsere Systeme erfassen aber auch alle möglichen Fahrsituationen und -daten, etwa die Geschwindigkeit, und passen die Lenkung an, ohne dass der Fahrer etwas davon merkt. Das führt beispielsweise dazu, dass man, ohne mit den Händen übergreifen zu müssen, einparken kann, die Lenkung aber gleichzeitig bei sehr hohen Autobahn-Geschwindigkeiten straff ist. Je stärker automatisiertes Fahren ins Auto Einzug hält, desto wichtiger werden solche Systeme.

Darstellung eines vernetzten und intelligenten Autos. Mit solchen Technologien will ZF wachsen.
Darstellung eines vernetzten und intelligenten Autos. Mit solchen Technologien will ZF wachsen. | Bild: zf

Wird das Lenkrad irgendwann überflüssig?

Holdmann: Wenn wir von vollautonomen Fahrzeugen wie Robotaxis sprechen, die es aber erst in einigen Jahren in Serie geben wird, ist das so. In China gibt es Ideen für Fahrzeuge, bei denen das Lenkrad im Stand weggeklappt werden kann, sodass Chauffeure, wenn sie auf ihren Fahrgast warten, einen komfortableren Raum haben, um sich beispielsweise mit Unterhaltungselektronik zu beschäftigen. Bei ZF haben wir so etwas schon vor Jahren für einen Prototyp entwickelt, aber bis jetzt gibt es noch keinen Auftrag zur Serienentwicklung.

Wann kommt so etwas nach Deutschland?

Holdmann: Das hängt von den Fahrzeugherstellern ab, die solche Autos anbieten müssen. Die Technologie unsererseits ist da. In China ist unsere Steer-by-Wire-Technologie im Modell ET9 des Herstellers Nio gerade auf die Straße gekommen – als erstes Fahrzeug mit dieser Technologie. Mercedes-Benz bringt als erster deutscher Hersteller im nächsten Jahr ein Fahrzeug mit Steer-by-Wire. Auch das System kommt von uns.

Will der Autofahrer eine Lenkung, die keine direkte Verbindung zu den Rädern mehr hat, überhaupt? Das klingt irgendwie gefährlich…

Holdmann: Das ist es nicht. Die Systeme sind redundant. Das heißt, selbst wenn eine Komponente ausfallen sollte, gibt es Ersatz, der die Funktionen übernimmt. Im Flugzeug funktioniert das genau gleich. Auch dort hat Sicherheit oberste Priorität.

ZF-Vorstand Peter Holdmann (links) im Gespräch mit Walther Rosenberger, Wirtschaftschef beim Südkurier.
ZF-Vorstand Peter Holdmann (links) im Gespräch mit Walther Rosenberger, Wirtschaftschef beim Südkurier. | Bild: ZF/ Rosenberger

Wann werden solche Technologien in Fahrzeugen verfügbar sein, die man sich für wenig Geld leisten kann?

Holdmann: Bis By-Wire-Technologien in den unteren Fahrzeugklassen ankommen, wird es noch mindestens fünf Jahre dauern. Aber es wird sich durchsetzen, da bin ich sicher. Bei den Bremsen geht es wahrscheinlich etwas zügiger als bei den Lenkungen.

Welche Rolle hat China bei der Technologieentwicklung von ZF?

Holdmann: ZF entwickelt seine Produkte auf allen Kontinenten, zusehends auch für die jeweiligen Kontinente unabhängig vor Ort. In China gibt es die Besonderheit, dass die Entwicklungszyklen kürzer sind. Es geht dort einfach viel schneller, bis die Produkte marktreif sind. Die China-Geschwindigkeit mit oft sechs Arbeitstagen a 12 Stunden ist als China-Speed ja schon zu einer festen Redewendung geworden. Mit unserer in Deutschland üblichen Arbeitszeit kommen wir da schwer hinterher.

Wendig auf dem engsten Raum: Speziallenkungen von ZF ermöglichen es, den Wendekreis von großen Autos extrem zu verkleinern.
Wendig auf dem engsten Raum: Speziallenkungen von ZF ermöglichen es, den Wendekreis von großen Autos extrem zu verkleinern. | Bild: Felix Kästle, dpa

ZF forscht und produziert immer stärker in China. Macht man sich abhängig von China?

Holdmann: Das sehe ich nicht. Mit unserer Präsenz in den drei wichtigen Märkten Asien, USA und Europa sind wir gut ausbalanciert. Das kommt uns zugute, wenn einzelne Märkte wegbrechen, wie derzeit Europa.

Das Chassis-Geschäft ist eine jener Säulen von ZF, an denen der Konzern auf jeden Fall festhalten will. Wie werden sich die Umsätze hier entwickeln?

Holdmann: Wir gehen davon aus, dass wir ausgehend von einem Umsatz von 10 Milliarden Euro 2024 auf 12 Milliarden Euro im Jahr 2030 wachsen werden. Wobei es bei den derzeit so volatilen Märkten und politischen Rahmenbedingungen schwierig ist, eine feste Prognose zu machen. Der Anteil von smarten Technologien mit einem hohen Maß an Sensorik und Digitalisierung wird dabei von rund einer Milliarde auf fünf Milliarden Euro anwachsen. Chassis 2.0, so nennen wir das, wird unser Wachstumstreiber werden.

Holger Klein, Vorstandsvorsitzender der ZF Friedrichshafen AG (CEO), muss das Unternehmen durch die Krise führen. Dazu baut er auch Jobs ab.
Holger Klein, Vorstandsvorsitzender der ZF Friedrichshafen AG (CEO), muss das Unternehmen durch die Krise führen. Dazu baut er auch Jobs ab. | Bild: Felix Kästle, dpa

Von Seiten des Betriebsrats gibt es die Befürchtung, ZF könne technologisch ins Hintertreffen geraten, da aufgrund der klammen Kassen zu wenig Geld in Forschung und Entwicklung investiert werde. Ist das so?

Holdmann: Wir verdienen in der Chassis-Division gutes Geld. Das heißt wir bewegen uns da im Rahmen der Zielrendite von ZF, wenn auch der Umsatz marktbedingt gerade hinter den Erwartungen zurückbleibt. Bei den neuen Produkten rennen uns die Kunden mit Aufträgen die Türen ein. Wir haben gar nicht die Entwicklungskapazitäten, alle möglichen Aufträge anzunehmen, denn das bedeutet erst einmal Investitionen, die wir aktuell nicht alle leisten können.

Darum können wir vieles nur umsetzen, wenn sich die Kunden an den Entwicklungskosten beteiligen. Dazu sind sie häufig bereit, weil unsere Technologie überzeugt. Kurz gesagt: Wir sparen uns nicht kaputt. Wir bleiben innovativ im Markt. Wenn wir Marktführer in der Fahrwerktechnik bleiben wollen, müssen wir stetig weiterentwickeln, und das tun wir.

Zwei Logos, zwei Partner: Mercedes-Benz wird Steer-By-Wire-Lenkungen von ZF ab 2026 in ein neues Modell einbauen.
Zwei Logos, zwei Partner: Mercedes-Benz wird Steer-By-Wire-Lenkungen von ZF ab 2026 in ein neues Modell einbauen. | Bild: ZF/ Rosenberger

Welchen Beitrag liefert der Friedrichshafener Stammsitz zu all den Zukunftstechnologien, über die wir gerade reden?

Holdmann: Friedrichshafen ist nicht der Schwerpunkt der Fahrwerkaktivitäten von ZF. In Deutschland liegt dieser historisch bedingt an den ehemaligen Lemförder-Standorten in Niedersachen und Nordrhein-Westfalen, am einstigen Sachs-Standort im bayerischen Schweinfurt sowie – von TRW kommend – in Koblenz und Düsseldorf.

Friedrichshafen liefert aber wichtige Beiträge mit seiner Kompetenz für Software- und Vorentwicklung auch für dieses Feld. Wenn wir mit Fahrwerktechnik wachsen, sichert das auch Jobs am Bodensee.