Die Schweiz ist auf die EU angewiesen, sagt die Professorin Astrid Epiney von der Universität Fribourg. Damit stellt sie sich gegen Politiker der SVP wie Roger Köppel, Chefredakteur der Schweizer Weltwoche, der im Interview mit dem SÜDKURIER gegen das Rahmenabkommen ausholte.

 

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Frau Epiney, warum wird das Rahmenabkommen mit der EU in der Schweiz so hitzig diskutiert?

Das hat diverse Ursachen. Zunächst ist es ein sehr komplexes Vertragswerk, und es ist äußerst schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen. Dann ist es so, dass es eine politische Partei gibt, die grundsätzlich gegen jede Vertiefung der Beziehung Schweiz – EU ist. Diverse, jetzt schon bestehende Verträge werden durch sie infrage gestellt. Wie etwa das Personenfreizügigkeitsabkommen. Aber es gibt einige Aspekte, die Emotionen hervorrufen – wie die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bei der Streitschlichtung, die dynamische Rechtsübernahme, also dass man das Recht der EU zu übernehmen hat, und das Thema Lohnschutz.

Mit dieser politischen Partei meinten Sie wohl die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) und deren Vertreter. Schüren Politiker wie Roger Köppel eine populistisch aufgeheizte Debatte?

Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, wie Parteivertreter diskutieren. Ich würde es aber für hilfreich halten, wenn man weniger mit Schlagwörtern operiert, sondern sich mit Inhalten auseinandersetzt und mit den Vor- und Nachteilen, die durch das Abkommen impliziert sind, aber eben genauso auch mit den Folgen eines Verzichts.

Ist die Aufregung um das Abkommen denn berechtigt?

Aus meiner Sicht ist das Abkommen insgesamt ausgewogen. Weder die Europäische Union noch die Schweiz konnten zu 100 Prozent ihre Anliegen durchsetzen, was für solche Verhandlungen normal ist, da die Interessen nicht deckungsgleich sind. Wenn man sich nüchtern den genauen Inhalt anschaut, geht es um den Zugang zum Binnenmarkt der EU. Naturgemäß wird er durch die Bestimmungen der EU geregelt. Wenn die Schweiz den Zugang haben möchte, wofür aus wirtschaftlicher Sicht Einiges spricht, dann ist es logisch, dass sie dafür Bedingungen wie die dynamische Rechtsübernahme akzeptieren muss. Denn ohne eine gewisse Homogenität der Rechtslage funktioniert der Binnenmarkt nicht. Das Abkommen, so wie es jetzt gestrickt ist, lässt aber auch eine gewisse Flexibilität und damit Raum für politische Einschätzungen: So könnte die Schweiz die EU-Gesetzgebung zum Teil nicht übernehmen, müsste dafür aber Ausgleichsmaßnahmen seitens der EU in Kauf nehmen. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Schweiz kein EU-Mitglied ist.

Was würde ein Verzicht bedeuten?

Das ist natürlich immer ein bisschen schwierig vorauszusehen. Aber es bestünde die Gefahr einer Erosion der bisherigen bilateralen Beziehungen. Denn es ist nicht so, dass wir keinen Zugang zum Binnenmarkt haben; dieser ist vielmehr Gegenstand einiger Abkommen, die auch angepasst werden können (aber ohne Rahmenabkommen nicht angepasst werden müssen). So wird 2020 die Übernahme der EU-Medizinprodukte-Regelung anstehen. Ohne diesen Zugang hätte die Schweizer Exportwirtschaft mit erheblichen Mehrkosten und Handelshemmnissen zu kämpfen. Die EU könnte zudem eine etwas unfreundliche Haltung einnehmen, etwa bei der bisherigen Anerkennung der Schweizer Börsenäquivalenz. Auch bei Forschungsrahmenprogrammen könnte die EU die Schweiz ausschließen. Bei einem solchen Machtspiel kann die Schweiz nur verlieren. Und es spricht absolut Nichts dafür, dass bei einer Ablehnung oder eines Hinauszögerns des Abkommens in ein paar Jahren ein besserer Vertrag möglich wäre.

Die Schweizer scheinen mit dem Rahmenabkommen eine Fremdbestimmung durch die EU zu fürchten. Wie viel Wahrheit steckt in dieser Angst?

Das ist nicht ganz falsch. Aber so ist es nun einmal: Die Schweiz ist das Land mit etwas über acht Millionen Menschen, umgeben von der EU mit über 500 Millionen Einwohnern (nach dem Brexit 443 Millionen, A.d.R.). Wir sind wirtschaftlich betrachtet abhängig von unseren direkten Nachbarn. Deshalb ist es heute schon so, dass wir eine weitgehende Einbindung haben in den Binnenmarkt. Es ist heute schon so, dass das Bundesgericht sich bei der Auslegung der Abkommen ausführlich auf die EuGH-Rechtsprechung bezieht. Und es ist heute schon so, dass sich die Schweiz autonom an Europäisches Recht anpasst, selbst in Bereichen, in denen sie es nicht müsste – weil es in ihrem eigenen Interesse liegt. Trotzdem ist die Wahrnehmung der Fremdbestimmung nicht ganz falsch: Das Rahmenabkommen bedeutet schon einen qualitativen Sprung in den bisherigen Beziehungen. Die Frage ist, wie man Politik macht, um bestmöglich die Interessen des Landes zu vertreten. Eine exportorientierte Wirtschaft wie die der Schweiz braucht stabile Beziehungen zur EU.

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Die Gewerkschaften wollen die von der EU als diskriminierend empfundenen Vorschriften für EU-Dienstleister nicht lockern. Warum? Und übertreiben die Gewerkschaften da nicht ein wenig?

Ja und nein. Die Gewerkschaften wurden ein wenig überfahren. Sie fühlten sich durch den Bundesrat vor den Kopf gestoßen. Die sogenannten flankierenden Maßnahmen wie die Voranmeldefrist und die Kaution für Arbeiter aus der EU, die in der Schweiz Aufträge ausführen, sind rote Linien, die nach Ansicht des Bundesrates nicht überschritten werden sollten.

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Und plötzlich wurden diese Linien rosa oder sind verblichen. Ich kann nachvollziehen, dass die Gewerkschaften da irritiert waren. Und dass das ein großes Anliegen ist.

Warum?

Weil das Lohnniveau nun einmal deutlich höher liegt in der Schweiz. Wenn es da eine Anpassung nach unten gäbe, würde das zu großen Schwierigkeiten bei der Lebenshaltung führen. Aber es ist auch nicht so, dass die Schweiz da gar nichts mehr machen dürfte. Mit dem Rahmenabkommen soll die Voranmeldefrist in Zukunft vier Arbeitstage betragen statt wie zuvor acht Kalendertage. So groß ist der Unterschied also gar nicht. Und es hindert niemand die Schweiz daran, andere Maßnahmen zu ergreifen, so lange sie verhältnismäßig und nicht diskriminierend sind. Auch die Entsendungsrichtlinie der EU, die zu beachten wäre, bietet einen großen Spielraum für Schutzmaßnahmen.

Die Schweizer Wirtschaftsverbände haben zum großen Teil eine PR-Kampagne für das Abkommen gestartet. Trotzdem scheint das die Schweizer Politiker nicht zu beeindrucken. Woher kommt diese ablehnende Grundstimmung?

Bis vor Kurzem gab es den Text des Abkommens nur auf Französisch: Ich kann mir deshalb vorstellen, dass es viele gibt, die sich nicht durch die knapp 40 Seiten gekämpft haben. Meine Hoffnung ist es, dass sich die Debatte nun versachlicht. Es gibt eigentlich in allen Parteien, vielleicht mit Ausnahme der SVP, Politiker, die rational argumentieren und durchaus positiv über das Abkommen sprechen. Deshalb denke ich, dass sich die Grundstimmung noch drehen kann.

Ein Streitpunkt ist ja auch das Schlichtungsverfahren über ein paritätisches Schiedsgericht. Das ist doch eigentlich eine faire Sache?

Da ist der Hintergrund, dass das Schiedsgericht den EuGH anrufen muss, wenn es um Unionsrecht geht, das in den Abkommen übernommen wurde. Es gibt Einige, die sagen, das Schiedsgericht sei deshalb nur ein Feigenblatt. Dann wird argumentiert, dass in einem Vertrag das Gericht der anderen Partei die entscheidenden Dinge klärt. Die Rechtsprechung des EuGH besagt, dass bei Verträgen mit Drittstaaten Streitfragen zur Auslegung von Unionsrecht nicht von Schiedsgerichten entschieden werden können, weil dadurch die Autonomie des Unionsrechts beschnitten werden könnte. Deshalb kann die EU eigentlich nicht anders. Die Schweiz hat dagegen ein großes Interesse daran, dass Ausgleichsmaßnahmen im Zweifel von einem Schiedsgericht geprüft werden. Denn sonst könnte die EU die Schweiz unter Druck setzen, wie es ihr passt. Das ist für kleinere und schwächere Vertragspartner immer etwas ungemütlich.

Fürchten Sie, dass die Schweiz den Vertrag nicht ratifiziert? Welche Folgen hätte ein solches Geduldsspiel mit der EU?

Ich glaube, die Gefahr, dass schon der Bundesrat nicht unterzeichnet, könnte durchaus bestehen. Und selbst wenn er unterzeichnet, gibt es noch Hürden zu überwinden im Parlament. Dann wird es sicher eine Volksabstimmung geben. Da kann noch Einiges passieren. Ich halte es aber dennoch für möglich, dass der jetzige Entwurf umgesetzt wird.

Warum?

Weil sonst die stabilen Beziehungen zur EU leiden würden. Wir sind nun einmal nicht im Pazifik. Wir mögen Freihandelsabkommen mit Ländern wie China haben. Aber die Handelsbeziehungen liegen wahrscheinlich sogar unter dem, was alleine mit Baden-Württemberg passiert. Wir haben einfach keine wirklichen Alternativen.

Fragen: Mirjam Moll

So verbandelt ist die Schweiz mit der EU

Die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind über Jahrzehnte gewachsen. Umso mehr steht auf dem Spiel, sollte das Rahmenabkommen platzen.

Bild 2: Warum die Schweiz die EU braucht
Bild: Bernhardt, Alexander
  • 1972 schlossen die EU und die Schweiz ein Freihandelsabkommen für Industriegüter. Es bildet bis heute die Grundlage für die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Seiten.
  • 1989 schlug die EU das Konzept eines Europäischen Wirtschaftsraums vor (EWR), das Abkommen wurde 1992 zwar von der Schweiz unterzeichnet, scheiterte aber an einer Volksabstimmung.
  • In der Folge entwickelten beide Seiten ihre Beziehungen über eine Reihe einzelner bilateraler Abkommen. Sie wurden in zwei Blöcken, 1999 und 2004, auf den Weg gebracht. Durch die Verträge wurde ein weitgehender gegenseitiger Marktzugang geschaffen.
  • Inzwischen gibt es etwa 20 Hauptabkommen und mehr als 100 weitere Verträge zwischen der EU und der Schweiz.
  • Der Rahmenvertrag soll die einzelnen Verträge nicht nur bündeln, sondern auch gewährleisten, dass die Rechtsgrundlage auf beiden Seiten gleich bleibt.
  • Die Schweiz ist nach den USA und China der drittgrößte Handelspartner der EU, diese wiederum der wichtigste Handelspartner der Schweiz: 2017 gingen 53 Prozent deren Exporte (117 Milliarden Schweizer Franken, etwa 103,2 Milliarden Euro) in den EU-Raum, 71 Prozent der Importe (133 Milliarden Franken, 117,3 Milliarden Euro) kamen aus der EU.