Kurz vor Ablauf einer wichtigen Frist steigt der Widerstand gegen die Ausgestaltung eines künftigen Wasserstoffkernnetzes für Süddeutschland massiv an – auch in der Industrie.
Kein Wasserstoff in Teilen Süddeutschlands?
Bedeutende Wirtschaftsregionen in Baden-Württemberg drohten beim existenziell wichtigen Wasserstoffanschluss abgehängt zu werden, sagte der Hauptgeschäftsführer des Wirtschafts-Dachverbands Unternehmer Baden-Württemberg (UBW), Oliver Barta. Es sei nicht akzeptabel, dass insbesondere der südwestliche Landesteil Baden-Württembergs in der bisherigen Wasserstoffplanungen „weitestgehend unberücksichtigt bleibe“.
„Wir halten es für unabdingbar, dass der mittel- und südbadische Raum bis zum Bodensee an das Wasserstoffkernnetz angeschlossen wird“, so der Verbands-Chef. Baden-Württemberg sei bislang vom Bund schlicht nicht ausreichend berücksichtigt worden.

Ähnlich sieht es Peter Haas, Hauptgeschäftsführer des Handwerkstags im Südwesten. Bundeswirtschaftsministerium und Bundesnetzagentur sollten bei ihren Wasserstoffplanungen „dringend die gesamtdeutsche Brille aufsetzen“, sagte er. Erstere leiten die Planungen zum Aufbau des H2-Kernnetzes federführend zusammen mit den Ferngasnetzbetreibern.
Es könne nicht sein, dass eine der „Herzkammern der deutschen Wirtschaft“ nicht ausreichend mit dem Zukunftsrohstoff versorgt werde, so Haas. Ins gleiche Horn stoßen auch die Kammern.

IHK in Grenzregion in Sorge
Die Hauptgeschäftsführerin der IHK Hochrhein-Bodensee, Katrin Klodt-Bußmann, nannte die bisherigen Planungen enttäuschend und der wirtschaftlichen Bedeutung der Region mit Maschinenbau, Automobil, Chemie und Metallverarbeitung in keiner Weise angemessen.

Noch härter formuliert die oppositionelle Landes-CDU ihre Kritik. Der Bund lasse Baden-Württemberg mit seiner starken Wirtschaft im Stich, sagte CDU-Südwest-Landeschef Manuel Hagel dem SÜDKURIER.
Andreas Jung, Konstanzer CDU-Bundestagsabgeordneter und Partei-Vize, sagte: „Wenn jetzt nicht endlich was passiert, dann werden ganze Regionen im Südwesten künftig zur Wasserstoff-Wüste.“ Die Pläne von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zum Aufbau des H2-Netzes zeigten eine „krasse Nord-Süd-Schieflage zu Lasten Baden-Württembergs“.

Hohe Wirtschaftskraft im Südwesten, aber keine Pipelines
Angaben der CDU zufolge entfallen auf den Südwesten nur etwa 5 Prozent des künftigen deutschen Wasserstoffnetzes, obwohl 20 Prozent der bundesweiten Wirtschaftsleistung von hier kommen. Ein Missverhältnis, dass allerdings in ähnlicher Weise auch auf Bayern zutrifft.
Langsam werden indes auch die Firmen nervös. Schon im Juli hieß es beispielsweise von einem der größten Industriearbeitgeber am Bodensee, dem Motorenbauer Rolls-Royce-Power-Systems, die unklare Wasserstoff-Strategie des Bundeswirtschaftsministeriums erschwere Investitionsmöglichkeiten erheblich.
Energiesicherheit am Bodensee wackelig
Jetzt legt der weltgrößte Nutzfahrzeugzulieferer ZF mit Sitz in Friedrichshafen nach. In einem Schreiben des Konzerns an Volker Mayer-Ley, CDU-Bundestagsabgeordneter im Bodenseekreis, stellt das Unternehmen, das allein in Deutschland 54.000 Menschen beschäftigt, die künftige Energiesicherheit infrage.
Gerade am Bodensee scheine diese in absehbarer Zeit nicht mehr gewährleistet, schreibt Kai Lücke, Leiter der Außenbeziehungen bei ZF. Gleichzeitig mahnt er in dem Schreiben, das der Redaktion vorliegt, eine „schnellstmögliche Versorgung mit H2, eine Beschleunigung der Netzausbaumaßnahmen und Investitionsanreize für dezentrale Energieerzeugungs- und -speicheranlagen“ an.
Ohne H2-Pipelines mehr Verkehr
Insbesondere die künftige Wasserstoffversorgung bereitet ZF demnach Kopfzerbrechen. Alle bislang bekannten Vorschläge bezüglich des Wasserstoffkernnetzes griffen zu kurz, schreibt der ZF-Top-Manager. Allein um die aktuell benötigte Erdgasmenge für eines der beiden Produktionswerke am Friedrichshafener Stammsitz durch Wasserstoff zu ersetzen, wären „35 bis 40 Lastzüge pro Tag“ nötig – sofern eine Pipeline-Anbindung fehle.
Und das ist nicht das einzige Problem. Um die ZF-internen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, müssten die nötigen Wasserstoffröhren schon im Jahr 2030 einsatzbereit sein, so Lücke. Alternativ käme ein erheblicher Mehrbedarf an Strom infrage, aber auch hier sieht ZF angesichts eines schleppenden Ausbaus der Verteilnetze „massive Fragezeichen“.
Die Zeit wird jetzt schon knapp. Zwischen 2025 und 2032 sollen deutschlandweit knapp 10.000 Kilometer Wasserstoffleitungen in Betrieb gehen. Bis 2045 soll Wasserstoff das Erdgasnetz als Energieträger ganz ersetzen. Die Investitionen allein für das H2-Kernnetz belaufen sich auf rund 20 Milliarden Euro.
EnBW will eine Milliarde Euro investieren
Allerdings ist unsicher, woher das Geld überhaupt kommen soll, denn Energiekonzerne als naheliegende Investoren sind bislang zurückhaltend. Der baden-württembergische Staatskonzern EnBW als einer der größten deutschen Versorger hat beispielsweise bislang nur Finanzierungszusagen über rund eine Milliarde Euro getroffen, und ein Teil der zugesagten Leitungen liegt gar nicht im Südwesten, sondern in Ostdeutschland.
Aus der Branche heißt es, das vorrangige Interesse der EnBW und ihrer Netztöchter liege darin, die eigenen Kraftwerke an H2-Leitungen anzubinden.
Energiewirtschaft will mehr Geld vom Staat
Für alles darüber hinaus dringen die Energieversorger und deren Lobbyverbände auf weitreichende Risikoabsicherungen des Bundes. Dort aber sind die finanziellen Spielräume nach dem Wegfall des Klimatransformationsfonds und unter den Bedingungen der Schuldenbremse stark begrenzt.
Daher zieht sich die Energiewirtschaft im Moment hinter dem Argument zurück, das jetzt geplante Wasserstoffkernnetz sei erst der Beginn eines viel weitreichenderen Ausbaus.
Dieser soll mittels eines Netzentwicklungsplans, wie er beispielsweise auch für die deutschen Strom- und Gasleitungen besteht, alle zwei Jahre fortgeschrieben werden. Künftige Bedarfe an Wasserstoff in den Regionen würden so fortlaufend berücksichtigt, heißt es aus der Branche.

Das Zögern der Energiewirtschaft nervt indes auch die Landesregierung zusehends. So monierte Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) jüngst, selbst die von den Firmen im Südwesten gemeldeten H2-Bedarfe würden durch die aktuellen Netzplanungen nur unzureichend abgedeckt. Außerdem forderte sie eine Pipeline zwischen Karlsruhe und Basel, um auch H2 aus dem Süden Europas via Schweiz in Deutschlands Südwesten zu leiten.
Damit Wasserstoff als Treibstoff einer klimaneutralen Industrie künftig in Süddeutschland ankomme, brauche es nun „einen Kompromiss aus unternehmerischem Mut und staatlicher Absicherung“, sagte Walker dem SÜDKURIER.
150 Millionen Euro vom Land für abgehängte Regionen
Im Angesicht der aus Landessicht unzureichenden Netzplanungen des Bundes, hat Baden-Württembergs Regierung im aktuellen Doppelhaushalt 150 Millionen Euro für den Aufbau von Wasserstoff-Kraftwerken, sogenannte Elektrolyseure, eingestellt. So könne zumindest ein Teil der benötigten Mengen künftig leitungsungebunden hergestellt werden. Und man versucht, neue Bezugsquellen im Süden zu erschließen. Als erstes Bundesland überhaupt habe man 2023 eine bilaterale Kooperation mit Spanien zu grünem Wasserstoff vereinbart, so Walker.
Klar ist aber, dass all das nicht reichen wird, sollte Wasserstoff tatsächlich der deutsche Energieträger der Zukunft werden. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Die Bonner Bundesnetzagentur will bis Ende dieser Woche über die Ausgestaltung des Wasserstoffkernnetzes entscheiden.