Ann-Katrin Hahner

Immer wieder sorgen Berichte über Betrug beim Bürgergeld für Empörung. In Kommentarspalten und Talkshows wird schnell der Eindruck vermittelt: Die größten Probleme für die Staatskasse sitzen im Wartezimmer des Jobcenters. Doch während die öffentliche Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Sozialleistungsbezieher gerichtet ist, bleibt ein anderer Bereich weitgehend unbeachtet – obwohl er den Staat jedes Jahr Milliarden kostet. Wer also sind die Gruppen, die abseits des Bürgergelds tatsächlich unbemerkt von der breiten Debatte Kassen leeren – und warum schaut die Politik dort so selten hin?

Übrigens: Das Bürgergeld soll – geht es nach dem Willen der Union – durch die „Neue Grundsicherung“ ersetzt werden. In diesem Rahmen wird auch überlegt, die Leistungen für Sozialhilfeempfänger komplett zu kürzen. Doch so einfach lässt sich die Grundsicherung nicht streichen.

Bürgergeldbetrug: Problem erkannt – aber überbewertet?

Die Höhe des Bürgergelds im Vergleich mit Lohnarbeit aber auch Bürgergeldbetrug sind immer wieder Gegenstand politischer Debatten. Begriffe wie „Sozialschmarotzer“ oder „Abzocke“ machen nach Betrugsfällen wie in einem Duisburger Hochhaus schnell die Runde – doch wie groß ist das Problem wirklich? Laut der Bundesagentur für Arbeit (BA) belief sich der nachgewiesene Vermögensschaden durch Bürgergeldbetrug – damals noch Hartz IV – im Jahr 2022 auf 272,5 Millionen Euro. Dies deckte der MDR in einem Faktencheck auf. Im selben Jahr wurden rund 119.000 Verdachtsfälle auf Leistungs- oder Sozialmissbrauch dokumentiert. Auch der Zoll war dem ZDF zufolge aktiv: In über 85.700 Ermittlungsverfahren rund um Arbeitslosen- und Bürgergeld deckte er eine Schadenssumme von knapp 87,9 Millionen Euro auf. Zusammengenommen ergibt sich damit ein jährlicher, belegbarer Schaden von rund 360 Millionen Euro. Aktuellere Zahlen standen unserer Redaktion zum Veröffentlichungszeitraum noch nicht zur Verfügung.

Was diese Zahlen natürlich nicht abbilden können, ist die Dunkelziffer – also jene Fälle, die unentdeckt bleiben. Dennoch: Im Vergleich zur im MDR-Artikel geschätzten jährlichen Steuerhinterziehung erscheint der finanzielle Schaden durch Bürgergeldmissbrauch deutlich geringer.

Abseits des Bürgergelds – Steuertricks, Briefkastenfirmen, Geldwäsche

Abseits des Bürgergelds sind andere Bereiche viel schwerer für den Staat zu kontrollieren und wirken sich weitaus gravierender im finanziellen Bereich aus: Steuerhinterziehung und organisierte Finanzkriminalität.

Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft (DSTG) geht davon aus, dass dem Staat durch Steuerhinterziehung jährlich rund 100 Milliarden Euro verloren gehen. Dieser Betrag setzt sich aus ganz alltäglichem Betrug – etwa in bargeldintensiven Branchen wie Gastronomie oder Handwerk – sowie aus professioneller Finanzkriminalität zusammen. Die zuvor genannten Zahlen zum Sozialbetrug sind also nur ein Bruchteil der Summe, die dem Staat jährlich durch Steuerhinterziehung entgeht.

Besonders kostspielig ist in diesem Zusammenhang die Schwarzarbeit, die im MDR-Check jährlich auf etwa 54 Milliarden Euro geschätzt wird. Die klassische Nichtangabe von Einkommen schlägt mit etwa 38,4 Milliarden Euro zu Buche. Und selbst wenn Steuerhinterziehung durch „Superreiche“ medial stark wahrgenommen wird – etwa durch Offshore-Konten oder Umsatzsteuerbetrug – summiert sich dieser Schaden im Jahr „nur“ auf einen einstelligen Milliardenbetrag, da diese Zielgruppe meist legale Wege der Steuervermeidung nutzt.

Ein ausgeklügelter Betrug funktioniert über sogenannte Umsatzsteuerkarusselle, wie der MDR in einem weiteren Bericht darlegt. Dabei handelt es sich um grenzüberschreitende Lieferketten, in denen Unternehmen untereinander Waren verkaufen – scheinbar legal. Das Problem: Die Umsatzsteuer wird nicht abgeführt, obwohl sie zuvor geltend gemacht wurde. Am Ende bleibt der Staat auf Milliardenbeträgen sitzen. Allein in Deutschland verursacht dieses System jährlich rund 20 Milliarden Euro Schaden – ein strukturelles Problem, das seit mehr als 30 Jahren besteht. Während andere Länder technische Gegenmaßnahmen eingeführt haben, hinkt Deutschland hinterher.

Auch Briefkastenfirmen spielen laut dem MDR-Bericht eine Rolle in der internationalen Steuervermeidung. Dabei handelt es sich um Unternehmen ohne echte Geschäftstätigkeit oder physische Präsenz, die dennoch als rechtliche Vehikel für Steuertricks genutzt werden. Ziel ist es oft, Gewinne zu verschieben, Transparenz zu vermeiden oder illegal erworbenes Vermögen zu verschleiern. Ein Beispiel nennt Florian Köbler, Chef der Deutschen Steuer-Gewerkschaft: Die Firmenzentrale des chinesischen Onlinehändlers Temu in Dublin sei nichts weiter als ein „Briefkasten“. Das ermögliche es dem Unternehmen, Steuersubstrat aus der EU abzuziehen – und gleichzeitig gegenüber kleineren Wettbewerbern einen unfairen Vorteil zu haben.

Steuerhinterziehung – Darum packt die Politik das größere Problem nicht an

Doch warum geht der Staat nicht genauso entschieden gegen diese Formen von Betrug vor, wie beim Bürgergeld? Steuerexperte Köbler nennt im Gespräch mit dem MDR gleich mehrere Gründe:

  • Hohe Komplexität: Karussellgeschäfte, Gewinnverschiebung oder verschachtelte Firmennetze sind oft so aufgebaut, dass sie selbst für Fachleute schwer durchschaubar sind.

  • Internationale Verflechtungen: Betrug findet oft über Landesgrenzen hinweg statt. Fehlende Rechtshilfeabkommen und langsame Zusammenarbeit erschweren die Aufklärung.

  • Juristische Ressourcen der Täter: Steuerbetrüger verfügen häufig über exzellente Anwälte, die Verfahren in die Länge ziehen. Aufseiten der Behörden fehlt es dagegen an Personal und Kontinuität – gerade bei komplexen Langzeitverfahren.

  • Mangelnde Transparenz bei Großvermögen: Während Bürgergeld-Empfänger ihre Finanzen im Detail offenlegen müssen, bleiben Vermögensverhältnisse bei Reichen oft im Dunkeln.

  • Bargeldbasierte Branchen: Wo mit viel Bargeld gearbeitet wird, sind Einnahmen besonders leicht am Fiskus vorbeizuschleusen.

  • Verlagerung ins Ausland: Konzerne mit globaler Struktur können ihre Gewinne problemlos in Länder mit niedriger Steuerquote verlagern – oft völlig legal, aber mit erheblichen Auswirkungen auf das Steueraufkommen in Deutschland.

Union und SPD reagieren im Sondierungspapier auf Bürgergeld – aber nicht auf das größere Problem

Obwohl das Thema „Kosteneinsparung“ im Bundestagswahlkampf 2025 verhältnismäßig viel Raum einnahm, wird im Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD vom 8. März 2025 die Problematik großangelegter Steuerhinterziehung nicht einmal erwähnt. Stattdessen heißt es hier: „Großangelegter Sozialleistungsmissbrauch, im Inland sowie durch im Ausland lebende Menschen, muss beendet werden. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit wollen wir weiter stärken und so härter gegen diejenigen vorgehen, die illegale Beschäftigung betreiben oder die ‚schwarz‘ arbeiten.“ Zwar soll also die Finanzkontrolle Schwarzarbeit gestärkt und das Bürgergeldsystem im Sinne von Bald-Kanzler Friedrich Merz (CDU) reformiert werden – von Umsatzsteuerkarussellen, Briefkastenfirmen oder digitaler Steuerfahndung fehlt im Papier jedoch jede Spur.

Florian Köbler hofft, dass sich das in den Koalitionsverhandlungen noch ändern wird und zeigt im Gespräch mit dem MDR einen möglichen Weg aus der Misere auf: Die Steuererklärung sollte für die Mehrheit der Deutschen einfach abgeschafft werden. Sein Vorschlag zielt vor allem auf die rund 26 Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und 18 Millionen Rentner und Rentnerinnen ab, deren Einkommen bereits durch Lohnsteuerabzug oder Rentenbezugsmitteilungen erfasst wird. Köbler argumentiert, dass in diesen Fällen eine automatische Steuerabrechnung ausreichen würde – ganz nach dem Vorbild skandinavischer Länder.

Denn in Staaten wie Schweden oder Dänemark ist es bereits Realität: Dort werden Steuer-IDs mit Nachweisen über Steuervergünstigungen verknüpft, sodass die passende Einkommensteuer automatisch und in Echtzeit einbehalten wird. Der Gang zum Steuerberater – oder das mühsame Ausfüllen von Elster-Formularen – entfällt für die meisten vollständig.Der Vorteil liegt auf der Hand: Der Bürger wird entlastet, der bürokratische Aufwand sinkt – und vor allem: Personal wird frei, das dringend an anderer Stelle gebraucht wird.

Gerade der letzte Punkt könnte in den kommenden Jahren noch entscheidend werden. Köbler warnt eindringlich vor strukturellen Problemen in der Finanzverwaltung. Bis zum Jahr 2030 würde ein Drittel der Stellen wegfallen, wenn nicht massiv gegengesteuert werde. Gleichzeitig aber würden enorme Ressourcen aufgewendet, um Steuererklärungen von Menschen mit überschaubaren Einkünften zu prüfen – statt gezielt gegen organisierte Steuerkriminalität vorzugehen.

Diese Kritik wird auch von anderen Experten geteilt. So beklagte Staatsanwältin Anne Brorhilker, bekannt für ihre Ermittlungen im Bereich Wirtschaftskriminalität, jüngst im Gespräch mit der Frankfurter Neuen Presse (FNP), eine dramatische Asymmetrie zwischen finanzstarken Beschuldigten mit Top-Juristen und unterbesetzten Ermittlungsbehörden. Insbesondere bei internationalen Steuerfällen fehle es an Kapazitäten, Expertise – und oft auch an politischem Willen. Brorhilker fasst es drastisch zusammen: „Die Großen lässt man laufen.“

Auch Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit kritisierte in der Vergangenheit gegenüber dem MDR die ungleiche Behandlung: Während Bürgergeldempfänger ihre gesamte finanzielle Lebenslage mit Kontoauszügen offenlegen müssten – und somit leicht kontrollierbar seien –, blieben Superreiche oft weitgehend intransparent. Ihre Steuervermeidung sei komplex, verschachtelt – und damit schwer greifbar.

Übrigens: Wie jüngst ermittelt wurde, sind nicht etwa Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen für Bürgergeldempfänger die Komponenten, welche die Finanzen der Jobcenter am meisten strapazieren. Tatsächlich versinkt das Geld in der Bürokratie statt in Maßnahmen für die Bürgergeld-Empfänger.