Räuber Hotzenplotz hat es sich auf dem Schoß von Marcus Sperlich bequem gemacht und guckt ihn aufmerksam an. Zusammen sitzen sie auf einem grünen Gartenstuhl aus Plastik vor dem Wohnwagen in Konstanz, in dem Sperlich mit seiner Frau Lorena wohnt. Hotzenplotz ist ein Arbeitskollege, erzählt der 31-jährige Puppenspieler über den bekannten Räuber.
Mit Händen und seiner tiefen Stimme erweckt Sperlich den poltrigen Kinderhelden mit der Kartoffelnase zum Leben. Das Puppenspiel liegt ihm als Sprössling einer alten Schaustellerfamilie im Blut. Zehn Generationen ließe sich der Stammbaum zurückverfolgen, so Sperlich. Darunter waren Gaukler, Artisten und Schauspieler. Quer durch Deutschland, überall würden auch heute noch Verwandte von ihm sitzen, Schausteller und Zirkuskünstler.
Tränen um die alten Puppen
Doch die vergangenen zwei Jahre waren hart. Wegen der Corona-Pandemie gab es kaum Vorführungen. Um über die Runden zu kommen, mussten die Eltern von Marcus Sperlich einige ihrer alten Puppen verkaufen. „Mein Vater ist ein alter Haudegen. Den erschüttert nichts so schnell. Aber als er die Puppen verkaufen musste, hatte er Tränen in den Augen“, erzählt er. Die geschnitzten Holzpuppen begleiteten Marcus Eltern seit über 40 Jahren auf der Bühne. Er selbst ist mit ihnen aufgewachsen.
Der Abschied für immer schmerzte, sieben Puppen mussten sie verkaufen. „Der Wert der Puppen liegt bei einigen tausend Euro“, sagt Sperlich. Doch seine Eltern hätten nur rund 150 Euro für eine Puppe bekommen. Weit unter Wert, aber sie konnten sich etwas zu Essen kaufen.
Der Kühlschrank bleibt leer
Ähnlich hart trifft es den Nachwuchs. Auch bei Lorena und Marcus Sperlich reicht das Geld momentan kaum, um den Kühlschrank zu füllen. Doch einen anderen Beruf können sich beide nicht vorstellen. Ihre kleine Puppenbühne haben sie zusammen aufgebaut und touren damit durch den Südwesten. Sie treten in Gemeindehäusern, in Kindergärten und Turnhallen mit ihren selbstgeschriebenen Stücken auf. Auch sie mussten sich von Bühnenbildern und Puppen trennen.
Als Schausteller fühlen sie sich von der Politik vergessen. Für sie ist die Krise noch nicht vorbei. Nachdem sie ein paar Puppen verkauft hatten, haben sie auch die staatlichen Corona-Hilfen beantragt. „Wir hätten sonst alles verkaufen müssen“, sagt Marcus Sperlich. Seine Frau Lorena erzählt, dass sie das Geld für die wichtigsten Rechnungen und vor allem für Lebensmittel ausgegeben hätten.
Angst vor Rückzahlung der staatlichen Hilfen
Allerdings entschieden sie sich dann dagegen, weitere staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen. „Wir haben von anderen gehört, die alles zurückzahlen mussten“, sagt Lorena Sperlich. Das hat das Ehepaar verunsichert. Sie hatten Angst, so eine Rückzahlung nicht leisten zu können. „Wir wüssten nicht, wie wir das stemmen sollten“, sagt die 25-Jährige, die in Konstanz die Schule besuchte. „Eher würden wir noch einmal Puppen verkaufen.“
Geld haben sie sich dann aus dem Bekanntenkreis geliehen, denn die Ersparnisse sind längst aufgebraucht. Doch dann gibt es ganz besondere Momente, über die beide glücklich sind. Etwa der, als eine Freundin mit einem Großeinkauf im Kofferraum vorbeikam. Oder als ein Freund einfach die Tankfüllung bezahlt hat.
„Das knabbert schon an der Psyche, wenn man für drei Wochen nur 50 Euro hat, um den Kühlschrank zu füllen“, gibt Lorena Sperlich einen Einblick. Einkäufe werden nach den Angeboten genau kalkuliert. Kartoffeln und Eier stehen oft auf dem Speiseplan.

Seit zwei Jahren liegen Hotzenplotz, Gretel, Kasperl und der Wachtmeister fast nur in ihrer Puppenkiste im Transporter und warten auf die seltenen Vorstellungen. Die Stabpuppen aus Stoff hat eine Puppenmacherin aus Köln nach den Wünschen der beiden gefertigt. 800 Euro koste so ein Räuber, erklärt Sperlich.
Das junge Ehepaar vermisst die Interaktion mit ihren kleinen Zuschauern, die schreienden Kinder vor der Bühne, ihre Begeisterung und das Mitfiebern, wenn Kasperl auf den Hotzenplotz trifft. Das Leuchten in den Kinderaugen, dafür lieben die beiden ihren Beruf. Doch wegen der Corona-Pandemie gibt es nur noch wenig Möglichkeiten, die Bühne aufzubauen und die Puppen aus der Kiste zu holen.
Ein Leben im Wohnwagen
„Das waren die schwersten zwei Jahre“, blickt Lorena Sperlich zurück. Auch sie sitzt auf einem der grünen Gartenstühle. Die Terrasse ein geschotterter kleiner Platz. Gleich daneben der Wohnwagen ihres Bruders, in dem mit dem 14 Monate alten Neffen die nächste Generation heranwächst. Hier auf dem Grundstück zwischen Kieswerk, Bahnlinie und Tierheim wohnt ihre Familie dicht beieinander. Schwester, Eltern und Großeltern. Alle warten darauf, mit ihren Wohnwagen und den Buden den Platz wieder verlassen zu können.

Doch momentan wird wenig gefeiert und wenn, dann nur unter strengen Hygieneauflagen. Wenige Gemeinden seien bereit, ihre Säle für Vorstellungen zur Verfügung zu stellen, sagt Lorena Sperlich. Und wenn doch, dann dürfe nur ein Bruchteil der Zuschauer zur Vorstellung kommen. „Von den acht Euro Eintritt, bleibt ein Euro für die Schausteller übrig“, sagt sie. Saalmiete, Fahrtkosten, Hygienemaßnahmen, Werbemittel wie Flyer und Plakate stehen auf der Ausgabenseite. Und auch der eine Euro werde nun eigentlich zum Abzahlen der Schulden benötigt.
„Für das Funkeln in den Augen“
„Aber untätig rumsitzen können wir auch nicht“, sagt Lorena Sperlich. Also spielen sie auch, wenn es sich nicht rechnet. „Wir fahren hin, bauen auf und geben das, was wir immer geben – damit die Kinder das Funkeln nicht mehr aus den Augen bekommen.“
Schon als Baby krabbelte Marcus Sperlich zwischen den Bühnenbildern seiner Eltern herum. Gab mit vier, fünf Jahren seinen Eltern die Requisiten bei der Vorstellung an. Gelernt hat er das Puppenspiel von Mutter und Vater. Diese stehen mit 70 Jahren immer noch mit ihren Puppen auf der Bühne.
Nicht das Geld, die Zufriedenheit zählt
Der Beruf sei immer sein Traum gewesen, sagt Sperlich. „Wir bekommen viel zurück. Wenn so ein kleiner Stöpsel nach dem Theaterstück den Kasperl umarmt und küsst und sagt ‚Du bist mein Held‘, dann erfüllt uns das.“ Dann zähle am Ende des Tages auch nicht das Geld, das sie verdient haben. „Wir können abends gut schlafen, wenn wir eine gute Vorstellung hatten.“

Bisher hat das Ehepaar gehofft, dass ab dem 20. März alles besser wird. Dann sollen die Corona-Bestimmungen gelockert werden. Damit haben sie sich die letzten Wochen motiviert. Mehr Auftritte nach Ostern – das war ihr Rettungsanker. Doch nun steigen die Inzidenzen wieder. Und auch der Krieg in der Ukraine macht sich bemerkbar. Viele Gemeinden wollten ihre Säle und Hallen derzeit nicht vermieten, weil sie möglicherweise Flüchtlinge unterbringen müssten, so Lorena Sperlich.
Für das neue Drachenstück fehlt es an Geld
Dabei stehen sie mit ihrem neuen Stück in den Startlöchern. Die 25-Jährige hat eine Geschichte geschrieben, in der Kasperle auf einer Dracheninsel strandet. „Wir haben alles da: die Puppen, die Fantasie und die Geschichte. Uns fehlt nur das Geld, um die Requisiten fertig zu bauen.“ Um die 600 Euro würde der Bau der Kulisse mit Lichteffekten, Vulkan und begehbarer Höhle kosten. Marcus Sperlich hat dafür schon alles im Kopf.

Eine Zukunft für die Puppenbühne?
Und wie steht es um die Zukunft der Puppenbühne? Was ist mit Generation elf? „Wenn wir Kinder haben, hoffe ich, dass sie das weitermachen“, sagt Marcus Sperlich. Seine Frau ergänzt, dass es ja genügend Kinder gebe, die von den Theaterstücken begeistert seien. Dass immer weniger Kinder und Familien ihr Theater erleben, läge eher an den jungen Eltern, die auf digitale Medien setzen.
Sie beobachtet, dass Eltern während der Vorstellung die ganze Zeit auf ihr Handy gucken, statt das Theater mit den Kindern zu erleben. „Am Ende der Vorstellung frage ich sie dann manchmal, ob sie überhaupt mitbekommen haben, wie die Augen ihres Kindes geleuchtet haben.“
Hinweis der Redaktion: Nach erscheinen dieser Geschichte meldeten sich viele Leser, die für Familie Sperlich spenden wollten. Wie es weiter ging, können sie hier lesen.