Jahrelang waren auf dem deutschen Arbeitsmarkt die Unternehmen am Drücker. Noch bis vor einem Jahrzehnt konnten sie bei Stellen-Bewerbungen aus dem Vollen schöpfen und sich die Besten und Klügsten zu Top-Konditionen angeln. Allenfalls bei einzelnen Spezialberufen herrschte Mangel.

Der Boom der deutschen Wirtschaft nach der Finanzkrise der ausgehenden Nuller-Jahre markiert da einen Wendepunkt. Auf dem Arbeitsmarkt verschob sich etwas. Für Firmen und öffentliche Arbeitgeber wurde es immer schwerer, frei werdende Arbeitsplätze zu besetzen. Und plötzlich galt das nicht mehr nur für Software-Spezialisten und Ingenieure, sondern für nahezu alle Bereiche des Arbeitsmarkts – vom ungelernten Maschinenbediener über Betriebsärztinnen bis hin zu Handwerkern und Finanzbeamtinnen.

Corona-Krise macht den Mangel deutlich

Dass es sich bei dieser schleichenden Entwicklung um eine tektonische Verschiebung im Arbeitsmarkt handelte, wurde der Wirtschaft spätestens durch die Corona-Krise bewusst. Zwar kam es in Deutschland nicht wie etwa in den USA zum sprichwörtlichen Big Quit – also dem massenhaften Abwandern der Beschäftigten aus ihren angestammten Branchen. Aber was sich vorher immer irgendwie zusammenfügte, ging jetzt plötzlich nicht mehr auf.

„Nicht die Arbeit, die Menschen gehen uns aus“, sagt Christoph Münzer, Hauptgeschäftsführer des Schwarzwälder Industrieverbands WVIB. Von einem „ausbalancierten Arbeitsmarkt“ könne seit damals keine Rede mehr sein. Und Münzer muss es wissen. Immerhin vertritt sein Verband mehr als Tausend Firmen zwischen Oberrhein, Schwarzwald, Alb und Bodensee. Und die erzählen ihm jeden Tag, wie schwer es ist, passende Bewerber zu finden.

Wer sich heute bewirbt, ist in einer guten Verhandlungsposition.
Wer sich heute bewirbt, ist in einer guten Verhandlungsposition. | Bild: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Indes streiten die Fachleute, warum das so ist. Denn die Beschäftigung eilt von Rekord zu Rekord. Die Zahl der angestellten Arbeitnehmer hat in der Bundesrepublik zum Ende des Jahres 2022 mit 41,7 Millionen einen historischen Höchststand erreicht. Auch Dank Einwanderung stehen dem Arbeitsmarkt damit fast acht Prozent mehr Arbeitskräfte zur Verfügung als 2015. Jedes Jahr aufs Neue gingen mehr Menschen einer abhängigen Beschäftigung nach, heißt es vom Experteninstitut des Bundesarbeitsministeriums, dem Nürnberger IAB.

Allerdings hat sich die Art der Beschäftigung verändert. Das Arbeitsvolumen ist seit 2015 deutlich langsamer gestiegen als die Zahl der Arbeitnehmer. Im Vergleich zu 2019 ist es sogar leicht gesunken, wie die Experten des IAB herausgefunden haben.

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Neben höheren Krankenständen während der Corona-Pandemie ist dafür auch Teilzeitarbeit verantwortlich, für die sich immer mehr Menschen – auch Berufseinsteiger – entscheiden. Bei Frauen beträgt der Teilzeitanteil mittlerweile 50 Prozent, bei Müttern sogar 66 Prozent. Außerdem gebe es auf dem Arbeitsmarkt „große Passungsprobleme“, heißt es vom IAB. Im Klartext: Die angebotenen Stellen passen oft nicht zu denen, die arbeiten können oder wollen.

Das gibt all jenen Bewerbern Rückenwind, die auf den Arbeitsmarkt streben. Ihre Verhandlungsposition beim Geschacher um Arbeitsbedingungen, Bezahlung und Benefits hat sich im Vergleich zu ihren Vorgängern vor einigen Jahren deutlich verbessert. Berichte aus Personalabteilungen, wonach nur mäßig qualifizierte Job-Aspiranten mit Maximalforderungen um die Ecke kommen, häufen sich. Glaubt man Umfragen, siegt die Dreistigkeit. Zumindest ein Teil der Unternehmen knickt ein.

IAB-Daten aus dem Jahr 2022 zufolge macht angesichts des grassierenden Bewerbermangels knapp die Hälfte der Betriebe bei Einstellungen Abstriche und stellt Kandidaten ein, die es noch vor einiger Zeit nicht in die Endauswahl geschafft hätte. Auch Fachmann Münzer sagt, im Moment sei der Arbeitnehmer am Drücker. „Vielleicht manchmal sogar etwas zu sehr.“ Man brauche wieder mehr Mitarbeiter, die „Lust auf ihre konkrete Arbeitet haben und nicht allein auf Benefits schielen“, sagt er.

Das sagen Personalchefinnen und -chefs aus der Region

Der SÜDKURIER hat mit Personalchefs und -chefinnen von Mittelständlern aus dem tiefen Süden Baden-Württembergs gesprochen und sie gefragt, wie es derzeit um die Job-Bewerber steht. Um es vorwegzunehmen: Die Jugendlichen und Berufseinsteigerinnen sind eigentlich die gleichen wie vor 20 Jahren.

Allerdings deutet jeder einzelne die neue Bedeutung, die ihm in Zeiten des harschen Fachkräftemangels zukommt, ganz individuell aus. Einige schlagen dabei über die Stränge, sagen die Personalmanager. Eine kleine Anleitung, was man beim Bewerbungsgespräch tun und lassen sollte.

Ayse Yildirim, Glatt in Binzen bei Lörrach

Ayse Yildirim ist Personalchefin beim Pharma-Anlagenbauer Glatt in Binzen bei Lörrach:
Ayse Yildirim ist Personalchefin beim Pharma-Anlagenbauer Glatt in Binzen bei Lörrach: | Bild: Glatt

„Jobeinsteiger treten heutzutage oft sehr selbstbewusst auf. Die Bewerber wissen, dass aus dem Arbeitsmarkt längst ein Bewerbermarkt geworden ist und sie den Markt diktieren können. Daraus werden dann beispielsweise Gehaltsforderungen abgeleitet, die unrealistisch sind und die Grenze des Möglichen oft überschreiten. Teils münden Bewerbungen auch ins Ghosting. So nennt man das Phänomen, dass Bewerbende unvermittelt jeden Kontakt und jede Kommunikation abbrechen. Bei dieser Entwicklung bleibt ein positives Miteinander klar auf der Strecke. Am Ende hat es jedoch auch mit fehlendem Anstand zu tun, wenn man sich nicht einmal die zwei Minuten Zeit für eine Absage nimmt.

Für uns Personalverantwortliche erfordert die neue Situation ein komplettes Umdenken im gesamten Rekrutierungsprozess. Wir balancieren immer auf einem schmalen Grat. Einerseits wollen wir den Wünschen der Bewerbenden nachkommen, um sie fürs Unternehmen zu gewinnen. Aber andererseits dürfen wir als Unternehmen auch nicht zulassen, dass mit den überzogenen Forderungen etwa eine Gehaltsspirale in Gang gesetzt wird, welche die bestehenden Verhältnismäßigkeiten außer Kraft setzt.

Sauberkeit zählt: Glatt aus Binzen bei Lörrach liefert Beschichtungsanlagen an viele Branchen.
Sauberkeit zählt: Glatt aus Binzen bei Lörrach liefert Beschichtungsanlagen an viele Branchen. | Bild: Glatt

Grundsätzlich legen wir bei der Personalsuche den Fokus auf den Menschen und gar nicht mal in erster Linie alleinig auf die Fachkompetenz. Diese kann man zur Not nachholen. Die persönlichen und sozialen Kompetenzen, also die Persönlichkeitsstruktur der Menschen, kann man jedoch schwer verändern. Bewerbende müssen menschlich zu uns passen. Und dies gilt umso mehr, wenn es um die Besetzung von Führungspositionen geht. Bei unserer Suche nach den richtigen Menschen machen wir auch in Zeiten des Fachkräftemangels keine Kompromisse. Bewerbende, die ein wertschätzendes Miteinander gestalten wollen, sind uns immer willkommen.“

Sandra Keßler, Elgo Electronic in Rielasingen

Sandra Keßler ist Personalleiterin bei Elgo Electronic in Rieslasingen.
Sandra Keßler ist Personalleiterin bei Elgo Electronic in Rieslasingen. | Bild: Elgo Electronic

„Es ist ein Trugschluss, dass Stellen-Bewerber heutzutage grundsätzlich anders sind als früher. Sehr höfliche und respektvolle Personen gab es früher schon. Und sie gibt es heute natürlich auch. Andererseits gab es die Unverschämten, von denen man heute oft redet, auch schon damals. Wenn sich ein Bewerber im Gespräch locker im Stuhl zurücklehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und Ihnen bei der Frage nach den Gehaltsvorstellungen entgegenblafft „Ach, Frau Keßler, Sie wissen, dass ich in der besseren Position bin – machen Sie mir mal ein Angebot!“, dann glauben viele, man redet von den aktuellen Zuständen. Tatsächlich habe ich so etwas aber schon vor 20 Jahren erlebt. Die Unverschämten begleiten mich seit 20 Jahren. Das ist also kein Problem der Generation Z.

Was mir heute auffällt: Über Social-Media-Kanäle sind junge Menschen heute auf permanente Belohnung konditioniert. Ein Like hier, ein Herzchen dort. Wenn es in der Arbeitswelt nicht ausschließlich Applaus, sondern konstruktive Kritik gibt, können das viele nicht wegstecken. Das finde ich bedenklich. Wir wachsen, wenn wir mal die Komfortzone verlassen müssen.

Elektronik-Fertigung bei Elgo in Rielasingen nahe des Vulkanbergs Hohentwiel.
Elektronik-Fertigung bei Elgo in Rielasingen nahe des Vulkanbergs Hohentwiel. | Bild: Elgo Electronic

Früher bedeutete Karriere immer Aufstieg. Heute orientieren sich Karrieren an Lebensphasen. Arbeitnehmer treten oft kürzer, sobald sie Kinder haben. Einige Jahre später starten sie im Beruf wieder voll durch. Wir bei Elgo versuchen, diesen Wünschen gerecht zu werden. Wir haben zum Beispiel einen Mitarbeiter, der Karriere auch karitativ definiert und sich einen Tag der Woche sozial engagiert. Wichtig ist, dass die Persönlichkeit des Bewerbers zum Unternehmen passt. Fachwissen kann man nachholen, Persönlichkeit nicht. Ein Mitarbeiter, der extrem klug ist, aber das Betriebsklima torpediert, bringt nichts. Lust auf den Beruf haben und etwas bewirken wollen, finde ich elementar wichtig.“

David Guy, Testo Industrial Services in Kirchzarten

David Guy ist Personalleiter beim Messtechnik-Spezialisten Testo Industrial Services in Kirchzarten.
David Guy ist Personalleiter beim Messtechnik-Spezialisten Testo Industrial Services in Kirchzarten. | Bild: Testo IS

„Bei Vorstellungsgesprächen habe ich in den vergangenen Jahren die eine oder andere Stilblüte erleben dürfen. Jüngst ist mir eine Kandidatin 90 Minuten mit einer dicken Wollmütze auf dem Kopf gegenübergesessen. Und sie hatte keine Ohrenschmerzen. Ein anderes Mal wollte ein Job-Kandidat mit mir ein Online-Bewerbungsgespräch am Rande einer Messe aus dem Riesenrad führen. Und einer hat mich mal mit ,Hey, Alter!‘ begrüßt. Da weiß ich dann nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich erwarte ja nicht, dass sich die Kandidaten wegen mir verbiegen. Aber etwas Anstand und ein ordentliches Auftreten sollten schon sein. Gott sei Dank sind diese Anekdoten nicht der Regelfall.

Bei Testo suchen wir Menschen, die soziale Kompetenzen haben, die Team-Player sind und sich in unsere Kunden hineinversetzen können. Das Team macht heute den Unterschied, nicht der Einzelne.

Testo aus dem Schwarzwald ist spezialisiert auf Messtechnik und Sensoren.
Testo aus dem Schwarzwald ist spezialisiert auf Messtechnik und Sensoren. | Bild: Testo

Bei den jungen Leuten nehme ich wahr, dass ihnen Geld nicht mehr so wichtig ist wie früher. Es dominieren Begriffe wie Work-Life-Balance und die persönlichen Interessen. Heute will sich keiner mehr für den Job verheizen. Außerdem haben Bewerber den Anspruch, dass man ihnen auf Augenhöhe begegnet. Als Unternehmen muss man sich den wandelnden individuellen Bedürfnissen stellen, sonst wird man irgendwann ohne Personal dastehen. Vorgesetzte, die mit Dezibel führen, akzeptiert die junge Generation berechtigterweise nicht mehr und zieht schnell Konsequenzen. Führungskultur, Werte und eine empathisches Management sind daher Themen, die immer wichtiger werden.

Außerdem sind flexible Arbeitszeitmodelle ein großes Thema. Wir haben reagiert und bieten unseren Mitarbeitenden an, über ihr Urlaubskontingent in bestimmten Grenzen selbst zu entscheiden. Das kommt gut an.“