Immer mehr Firmen im Süden Baden-Württembergs befürchten massive Standortnachteile und den Verlust von Arbeitsplätzen durch eine unzureichende Anbindung ans künftige deutsche Wasserstoffnetz. Außerdem bestehe die Gefahr, bei der Erreichung der Klimaziele ins Hintertreffen zu geraten.
Die sich im Moment abzeichnende Abkopplung „des hochinnovativen und auf Nachhaltigkeit ausgerichteten wirtschaftlichen Südens von dem geplanten Wasserstoffnetz“ sei ebenso kurzsichtig wie unsinnig und schwäche eine der leistungsstärksten, innovationsfreudigsten und transformationswilligsten Wirtschaftszonen Europas“, sagte der Vorstandschef des Automobilzulieferers Eto, Michael Schwabe, dem SÜDKURIER.
Er könne sich nicht vorstellen, dass das politisch „so gewollt“ sei, sagte Schwabe, der den Zulieferer aus Stockach mit knapp einer halben Milliarde Euro Jahresumsatz seit Jahren führt. Die aktuell vom Bund vorangetriebenen Pläne zum Ausbau eines Wasserstoffkernnetzes müssten daher dringend überarbeitet werden.
Investitionen und Jobs unsicherer
Bis 2032 soll Deutschland von einem knapp 10.000 Kilometer langen Netz von Wasserstoffpipelines durchzogen werden. Diese sollen die vorhandenen Gasnetze ergänzen und bis 2045 vollständig ersetzen. Weite Teile Baden-Württembergs sind nach den aktuellen Planungen aber zunächst nicht an die neuen Energieautobahnen angeschlossen. Allenfalls Jahre später und über deutlich leistungsschwächere Trassen soll hier die Versorgung erfolgen.
Wenig Leitungen, viel Industrie in Süddeutschland
Die Lücken in der künftigen Gas-Infrastruktur beunruhigen die Firmen im industriestarken Süden zusehends. Zuletzt hatte Deutschlands zweitgrößter Automobilzulieferer ZF Friedrichshafen die Energiesicherheit an seinen Produktionsstätten in der Bodenseeregion mit rund 10.000 Arbeitsplätzen in Frage gestellt.
In einem Schreiben forderte der Leiter der Außenbeziehungen des Konzerns, Kai Lücke, die schnellstmögliche Versorgung mit Wasserstoff, eine Beschleunigung der Netzausbaumaßnahmen und mehr Investitionen in Elektrolyseure und Speicher.

ZF, Eto, Amcor, Takeda – Firmen wollen Zugang zu Wasserstoff
Dem schließen sich nun weitere Firmen mit großen Produktionsstätten entlang der deutsch-Schweizer Grenze an. Wasserstoff sei für die künftige Energieversorgung von zentraler Bedeutung, sagten die Geschäftsführer des Singener Aluminium-Spezialisten Amcor Flexibles, Ludwig Wandinger und Christian Muckermann, dem SÜDKURIER.
Nötig sei eine „Infrastruktur mit gleichberechtigtem Zugang von Nutzern ohne diskriminierende Standortnachteile“ in ganz Deutschland. Das geplante Wasserstoffnetz gewährleiste dies nicht. Vielmehr gebe es eine „Schieflage“ in der Versorgung zwischen gut angebundenen Regionen im Norden und solchen mit mangelhafter Anbindung im Süden.
Eine nachhaltige Energieversorgung sei aber der Schlüssel für konkurrenzfähiges ökologisches Handeln und „letztlich den Erhalt von Arbeitsplätzen und technischer Kompetenz im Süden von Baden-Württemberg“, sagten sie.

Ähnlich äußerte sich ein Vertreter des japanischen Pharma-Riesen Takeda. Dieser betreibt in Singen sein mit rund 1100 Angestellten größtes deutsches Produktionswerk. Dort werden unter anderem ein Impfstoff gegen Dengue-Fieber, aber auch Blockbuster-Medikamente wie das Magenmittel Pantoprazol hergestellt. Die Produktion gilt als energieintensiv.
Nach eigenen Angaben hat das Unternehmen in den vergangenen Jahren mehr als 300 Millionen Euro in den Standort investiert – nun sorgt man sich um die Nachhaltigkeit des Engagements. Man sei überzeugt, dass die Entwicklung einer regionalen Wasserstoffwirtschaft wesentlich dazu beitragen könne, die Energiewende voranzutreiben und neue Wachstumchancen zu ermöglichen, sagte Standortleiter Dirk Oebels unserer Zeitung.

IHK sieht Standortattraktivität in Gefahr
Die Befürchtungen der Firmen reihen sich ein in warnende Stimmen aus der Kammer- und Verbände-Landschaft. So monierte jüngst der Hauptgeschäftsführer des Handwerkstags im Südwesten, Peter Haas, es könne nicht sein, dass eine „Herzkammer der deutschen Wirtschaft“ nicht ausreichend mit dem Zukunftsrohstoff Wasserstoff versorgt werde. Haas‘ Amtskollegin bei der IHK Hochrhein-Bodensee, Katrin Klodt-Bußmann, sagte, bei der Wasserstofffrage gehe es „um die Zukunftssicherung des Standorts im Südwesten“.
Nach Darstellung der IHK sollen weite Teile der Grenzregion sowie des Schwarzwaldes erst im Jahr 2040 an die Wasserstoff-Hauptleitungen – das sogenannte Kernnetz – angeschlossen werden. Inakzeptabel und „ein echtes Handicap“, konstatiert die IHK-Hauptgeschäftsführerin.

Hauptadressat der Kritik ist das Bundeswirtschaftsministerium Robert Habecks (Grüne) sowie die Bonner Bundesnetzagentur, die als Aufsichtsbehörde die Pipeline-Planungen vorantreibt. Insbesondere die im Südwesten stark verwurzelte CDU wirft dem Minister vor, das Wasserstoffnetz am Bedarf vorbeizuplanen und vor allem die nördlichen Bundesländer anzubinden.
Im industriestarken Süden, der 20 Prozent der nationalen industriellen Wertschöpfung und 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf sich vereine, seien nur fünf Prozent der Wasserstoff-Pipelines vorgesehen. Ein krasses Missverhältnis, wie etwa der CDU-Bundestagsabgeordnete und Fraktions-Energieexperte Andreas Jung mit Wahlkreis in Konstanz findet. Seit Monaten warnt er vor „Wasserstoffwüsten“, die sich künftig am Bodensee, im Schwarzwald, in Oberschwaben und am Oberrhein auftun könnten.
H2 aus dem Sonnengürtel?
Einen weiteren Planungsfehler erkennt Jung in der Fokussierung des Ministers auf H2-Lieferländer in Nordeuropa. Die Nordsee-Anrainer Norwegen, Holland oder Dänemark stünden hier im Vordergrund. Vernachlässigt würden dagegen Nordafrika und Südeuropa als Rohstofflieferanten. Dabei seien die Produktionsbedingungen für das Gas hier besonders gut.
Über Pipelines oder per Schiff könnte aus diesen Weltgegenden schnell und günstig geliefert werden, so Jung. Die Bundesregierung bestreitet, die Fühler nur nach Norden auszustrecken. Man prüfe „verschiedene Transport- und Technologieoptionen“, heißt es in der Antwort auf eine Anfrage Jungs ans Bundeswirtschaftsministerium. Dazu sei man etwa auch in Gesprächen mit Ländern wie „Spanien, Portugal, Österreich, Italien, Algerien und Tunesien“.
Ob es Deutschland tatsächlich gelingt, den Rohstoffreichtum dieser Länder anzuzapfen, könnte schon bald entscheidend werden. Denn Nordeuropa schwächelt. Ende September hat der norwegische Energiekonzern Equinor, die ehemalige Statoil, den Bau einer Export-Pipeline für blauen – das heißt aus Erdgas gewonnenen – Wasserstoff nach Deutschland aus Kostengründen abgeblasen. Und eine ähnliche Trasse aus Dänemark verzögert sich wohl um Jahre. Die mögliche Wasserstofflücke – sie scheint größer zu werden.