Frau Wiener, Sie gelten als Verfechterin einer Landwirtschaft, die möglichst ohne Pflanzenschutzmittel auskommen sollte. Als Grünen-Abgeordnete im Europaparlament engagieren Sie sich dafür, dass der Pestizid-Einsatz weiter reduziert wird. Warum ist das erforderlich?
Als Bio-Bäuerin habe ich den Anspruch, keine chemischen Pestizide einzusetzen. So wie es die Verordnung für Ökologischen Landbau vorschreibt. Zudem sind wir mit Krisen konfrontiert – das sind neben Klimakrise und Biodiversitätskrise verdichtete Böden, belastetes Wasser und eine Steigerung von Krankheiten und Vergiftungen, die etwa im Pestizid-Atlas der Heinrich-Böll-Stiftung abgebildet sind. Pestizide sind mittlerweile überall nachzuweisen: auf der Zugspitze, in der Wiener Innenstadt, in unserem Blut und in der Muttermilch. Zudem ist die Kombination verschiedener Pestizide und ihre Wirkung und deren Abbauprodukte noch nicht mal untersucht.
Ihre Leitidee ist eine Systemänderung, um die Landwirtschaft zukunftsfähig zu machen. Die Europäische Kommission sieht das ebenso. Aktuell wird dazu eine EU-Verordnung vorbereitet, die den Einsatz von Pestiziden neu regeln soll. Die Menge der Spritzmittel soll bis 2030 halbiert werden. Ist das ausreichend?
Die angestrebte SUR-Verordnung (Sustainable Use Of Pesticides Regulation, Anm. d. Red.) soll eine Weiterentwicklung der zehn Jahre alten SUD-Direktive (Sustainable Use Of Pesticides Directive, Anm. d. Red.) werden. Diese hatte in den Mitgliedsländern mehr schlecht als recht funktioniert. Der Erfolg bei der Verringerung von Pestiziden blieb aus. Deshalb soll eine Reduktion verbindlich verordnet werden. Wir haben ein immer größeres Problem mit Pestiziden. Darüber herrscht in Europa wissenschaftlicher Konsens. Es bedarf mehr Biodiversität, wenn wir unsere Lebensgrundlage nicht zerstören wollen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Umweltgifte in den Griff zu kriegen.
Mit dem Einsatz von Pestiziden haben sich Bauern und Bäuerinnen in eine Abhängigkeit gebracht, aus der sie schwer wieder herauskommen. Wenn wir eine zukunftsfähige Landwirtschaft, mit vielfältigen bäuerlichen Strukturen, haben wollen, ist es wichtig, dass wir sie unabhängig und ernährungssouveräner gestalten. Dazu gehört folgerichtig eine Pestizidreduktion durch agrarökologische Maßnahmen.
Mit Ihrem Einsatz für eine schärfere Gangart bei der Pestizidreduktion haben Sie die Obstbauern in Baden-Württemberg aufgebracht. Auch Bauern und Winzer fühlen Existenzängste. Sie fürchten, ihre Pflanzungen nicht gegen Krankheiten und Schädlinge schützen zu können. Den Erzeugern drohen Ertragsverluste und der Verlust eines beachtlichen Teils ihrer Anbauflächen, die ohne Pestizide nicht zu bewirtschaften wären. Verstehen Sie die Sorgen?
Natürlich verstehe ich die Sorgen. Agrarindustrielle konventionelle Produktion mit Monokulturen geht nur mit dem Einsatz chemischer Pestizide. Der Gesetzesentwurf zur Verringerung ist aber von der Kommission vorgelegt worden, die zuvor vom Europäischen Gerichtshof dazu aufgefordert worden war, initiativ zu werden. Ich bin lediglich die Verhandlungsführerin des Europäischen Parlaments und bearbeite jetzt den Vorschlag.
Sie wollen sich aus der Schusslinie herausnehmen?
Na ja, ich sage erst mal, wie es ist. Wenn mich Leute angehen und sagen, die Wiener will ein Pestizidverbot, dann stimmt das so nicht. Es geht um eine Reduktion, die machbar ist. Ich bin EU-Berichterstatterin, mit dem Ziel, eine Position des Europaparlaments zu erarbeiten. Im Trilog, mit Rat, Kommission und Europaparlament, wird dann der endgültige Gesetzestext formuliert. Man kann nicht sagen, ich will was völlig Absurdes. Im Gegenteil: Ich folge wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bei der Definition sogenannter sensibler Gebiete bin ich sogar hinter dem Vorschlag der Kommission geblieben.
Erläutern Sie das bitte.
Pestizide sollen nicht verboten, sondern reduziert werden. Europaweit soll im Mittel eine Verringerung um die Hälfte erreicht werden. In den Mitgliedsstaaten ist im Einzelnen zu schauen, wie und wo das möglich und notwendig ist. Die Reduktion gilt ja nicht für jede Fläche, sondern ist über die ganze EU zu betrachten. Es wird Fälle geben, wo Pestizide einfach zu ersetzen sein werden. Bei Sonder- und Dauerkulturen wird es für konventionelle Landwirte hingegen schwieriger sein.
Mit der SUR-Verordnung sollen aber Mittel benannt werden, mit denen Pestizid-Reduktionen zu bewerkstelligen sind. Dazu zählt das definierte und verpflichtende IPM (Integrated Pest Management, Anm. d. Red.), das ist ein Katalog von agrarökologischen Maßnahmen, die früher gute landwirtschaftliche Praxis waren, wie Fruchtfolgen, Sortenauswahl, Nützlinge fördern, Unter- und Zwischensaat und vieles mehr.

Was bedeutet das für Baden-Württemberg?
Zu Baden-Württemberg ist zu sagen, dass dort ein Pestizidreduktionsplan vorliegt und Fortschritte erreicht worden sind. Politik, Naturschutz und Bauern haben zusammengearbeitet. Deswegen habe ich für die EU-Verordnung einen Änderungsantrag eingebracht: Wenn Regionen ihren eigenen Pestizidreduktionsplan vorlegen können oder schon erfolgreich und messbar durchführen, soll dieser von der EU anerkannt werden. Es geht nicht darum, die Landwirtschaft abzuschaffen, sondern zukunftsfähig aufzustellen.
Ein Streitpunkt ist, die sensiblen Gebiete zu definieren, also die Flächen, auf denen chemische Pestizide nicht eingesetzt werden dürfen.
Richtig, die Kommission hatte hier mit einem Totalverbot einen Vorschlag gemacht, der inakzeptabel ist. Diesen hat sie aber schon vor Monaten korrigiert.
Knackpunkt ist, dass Landschaftsschutzgebiete ausgenommen bleiben, weil es vielfach Flächen sind, die bewirtschaftet werden.
Mein Vorschlag ist, dass die Mitgliedsstaaten selbst definieren können sollten, was nationale Schutzgebiete sind. Das braucht keine übergeordnete Einschränkung. Und in allen anderen ökologisch sensiblen Gebieten, die eines besonderen Schutzes bedürfen, sollen zumindest ökologische Pestizide zugelassen werden. Aber ich betone, das ist eine Verhandlungsbasis. Wir müssen schauen, was praktikabel ist.

Der Entwurf der Verordnung sieht vor, dass besonders gefährliche Stoffe um 50 Prozent verringert werden. Sie gehen da weiter und fordern eine Verringerung um 80 Prozent. Ist das realistisch und um was für Stoffe handelt es sich?
Das sind die Substitutionskandidaten – eine Liste von 53 Wirkstoffen, von denen man weiß, dass sie neurotoxisch, krebserregend, fötusschädigend und persistent, also sehr lange in der Umgebung sind. Sie heißen Substitutionskandidaten, weil sie wegen ihrer Gefährlichkeit dringend ausgetauscht werden müssen. In den vergangenen Jahren sind wir hier nicht wirklich weitergekommen, weil es keine verpflichtende Maßnahmen und zu viele Ausnahmen gab. Die Politik muss hierzu einen rechtlichen Rahmen schaffen. Dabei geht es auch um den Schutz der Bauern und Bäuerinnen selbst.
Der Handlungsdruck ist hoch. Trotzdem sehen viele Erzeuger ihren Berufsstand bedroht. Sie fürchten Ertragseinbußen beim Pestizidverzicht. Manche sehen gar die wirtschaftliche Existenz von Höfen und Betrieben gefährdet.
Ich bin selbst an einem Biohof beteiligt. Auf dem Bauernhof zum Teil aufgewachsen. Auch bin ich Imkerin. Ich kenne die Herausforderungen und Auflagen. Ich lebe nicht in einer Blase, wir brauchen Mut und Lösungen. Es gibt viele Beispiele von konventionellen Höfen, die nach IPM handeln, keine Ertragseinbußen und finanziellen Verluste haben, aber trotzdem mit agrarökologischen Maßnahmen Pestizide reduziert haben. Methoden, die sie freier, unabhängiger und gesünder machen.
Das muss das Ziel sein, Bäuerinnen und Bauern unabhängiger zu machen und ihnen Souveränität zurückzugeben, die sie schon lange durch Handel und Industrie verloren haben. Ich bin überzeugt, wir brauchen größere Biodiversität, sonst werden wir keine Zukunft mehr haben. Ohne Natur kein Essen.
Wir müssen auch als Verbraucher unseren Konsum überdenken.
Wir denken alle nach. Es ist nur wahnsinnig schwierig, Essgewohnheiten zu ändern. Es ist die Frage, schaffen wir einen rechtlichen Rahmen, der das Gute belohnt und vereinfacht, oder machen wir es wie bisher, dass das Schlechte und Zerstörende belohnt und subventioniert wird? Auch Bauern schauen natürlich, wie kann man am besten überleben und was ist wirtschaftlich am sinnvollsten?
Bis jetzt war es am sinnvollsten, wenig Abnehmer zu haben, sich zu spezialisieren, den eigenen Acker mit chemischen Inputs auszubeuten, für den Welthandel zu produzieren, mehr zu wachsen auf Kosten von Tierwohl, Böden, von Wasserreinheit und auf Kosten der eigenen Gesundheit, wie man heute weiß.
Sie sind vor vier Jahren in die Politik gewechselt. Spüren Sie auch den Druck der Erzeuger und Agrar-Lobby auf EU-Ebene?
Ja, klar. Die Agrar-Lobby ist die mächtigste Lobby im Europaparlament. Da ist wahnsinnig viel Geld im Spiel. Aber ich glaube, wir müssen definieren, wer da so spricht. Reden wir von der agrarindustriellen Landwirtschaft, die für den Welthandel immer mehr produzieren will, oder reden wir von regionalen, kleinbäuerlichen Familienbetrieben, die ihr Netzwerk in der Region aufbauen? Wenn diese dann aber attackiert werden mit Welthandelspreisen, die ihre eigenen Produkte in einen unfairen Wettbewerb stellen, dann müssen wir einfach über dieses System reden.
Ich bin für nachhaltige Landwirtschaft mit vielfältigen Strukturen. Es muss auch nicht heißen, jeder hat nur noch ein paar Hektar. Ich rede nicht von Größen, sondern von Methoden.
Man merkt Ihnen die Empathie und Ernsthaftigkeit in der Sache an. Wenn Sie sich entscheiden müssten, würden Sie künftig lieber als Köchin oder als Politikerin wirken?
(lacht) Lassen Sie mich ausweichend antworten. Das Kochen und andere direkt zu nähren, und nicht wie in der Politik zu schauen, dass alle theoretisch genährt werden, ist schon ein bisschen befriedigender. Weil es viel mehr mit Zuneigung und mit Zugewandtheit und mit Liebe und Achtsamkeit zu tun hat. Politik ist in erster Linie ein harter Kampf und niemand streitet und ändert sich gern. Für eine neue Mission zu kämpfen, ist viel, viel schwieriger, als jemandem ein köstliches Mahl zu bereiten, ihm das duftend hinzustellen und zu sagen: Bitte iss.