Bernd Dambacher hat Schmerzen, jeden Tag, jede Minute, immer. Schmerzen, wenn er einschläft, wenn er aufwacht, wenn er arbeitet, isst oder sich unterhält, wie in diesem Moment im Behandlungszimmer von Ulrike Korth, Leitende Oberärztin der Klinik für Anästhesie-, Intensiv-, Notfall- und Schmerzmedizin an der St. Elisabethen-Klinik in Ravensburg – und das seit 20 Jahren. Jetzt hat er Hoffnung, auf Dauer zwar nicht ohne, doch mit für ihn erträglichen Schmerzen leben zu können – dank Cannabis.
Seit 10. März dieses Jahres können Patienten Cannabis auf Rezept erhalten. Verordnen dürfen Ärzte nicht nur cannabishaltige Fertigarzneimittel oder Cannabis-Extrakte, wie das Dronabinol, das Bernd Dambacher bekommt, sondern auch getrocknete Cannabis-Blüten, den Medizinal-Hanf, wenn eine positive Wirkung auf den Krankheitsverlauf oder die Beschwerden zu erwarten ist, das heißt, wenn sie dies für medizinisch angezeigt halten. Früher war eine Genehmigung der Bundesopiumstelle notwendig. Diese fällt nun weg.

Schwerer Unfall vor 20 Jahren
Ruhig und abgeklärt erzählt der 48-Jährige mit den weichen, freundlichen Gesichtszügen von seiner langen Leidensgeschichte, die an jenem Tag beginnt, als er als 27-Jähriger einen schweren Motorradunfall hat. Seitdem ist sein rechter Arm gelähmt. Jetzt, als er davon spricht, fällt auf, dass seine rechte Hand zierlicher ist als die andere und wie unbeteiligt auf seinem Oberschenkel ruht. Sie fühlt sich kälter an als seine gesunde Hand, und er spürt es nicht, wenn man sie berührt. Aber das sind inzwischen Kleinigkeiten für Bernd Dambacher. Viel schlimmer sind die Schmerzen.
Seit 20 Jahren nimmt er starke Schmerzmedikamente. Als er 2016 zu Ulrike Korth kam, hatte er Schmerzen der Stärke 7 und das, obwohl er eine sehr hohe Dosis dieser Opiate einnahm. In der Medizin wird die Intensität der Schmerzen anhand einer Skala von 0 (kein Schmerz) bis 10 (stärkster vorstellbarer Schmerz) eingeteilt. Mit dieser Skala schätzt der Betroffene seinen aktuellen Schmerzzustand selbst ein. Bernd Dambacher würde sich einen Wert von 3 oder 4 wünschen. Und was wäre 10? „Bei 10 springen Sie aus dem Fenster“, sagt Ulrike Korth. „Diese Schmerzen sind nicht mehr auszuhalten.“ Über die Jahre habe sich Bernd Dambacher an die Betäubungsmittel gewöhnt und die Ärzte hätten die Dosis stetig erhöhen müssen, weil er trotzdem irrsinnige Schmerzen hatte, sagt sie. „Wenn wir eine solche Opiat-Dosis nehmen würden, würden wir aufhören zu atmen und tot umfallen.“ Auch Schmerzsonden am Rückenmark, die elektrische Impulse abgeben, halfen nicht.
Bevor die Behandlung mit Cannabis beginnen konnte, musste Bernd Dambacher zunächst einen Entzug auf der Intensivstation machen. Eine große Unruhe, ständige Zuckungen am gesamten Körper, Schlaflosigkeit, starkes Bauchweh und Übelkeit plagten ihn. „Wenn die Entzugsserscheinungen zu heftig werden, bekommen die Patienten eine Narkose, damit sie schlafen können und den Entzug nicht erleben“, sagt Ulrike Korth. Schlimm war der psychische Entzug, der nach dem körperlichen Entzug einsetzt und zu Depressionen führen kann. „Man fängt dann schon bei den kleinsten Dingen zu weinen an“, sagt Bernd Dambacher.
Nach dem zweiwöchigen Entzug war er „clean“, also sein Körper frei von Opiaten. Das war im vergangenen Jahr vor Weihnachten. Als die Schmerzen von Neuem begannen, hatten sie nach kurzer Zeit Stärke 9 erreicht. Wie sich das anfühlt? „Das Leben hört auf, man hat nur noch Schmerzen“, sagt Bernd Dambacher, der als technischer Serviceleiter einer mittelständischen Firma in Markdorf arbeitet, wo er auch mit seiner Familie wohnt. Seit mehreren Monaten nimmt er die gleiche Dosis Cannabis. „Wenn man einmal das richtige Niveau gefunden hat, dann bleibt es dabei“, sagt Ulrike Korth, die diese Erfahrung auch bei anderen Patienten gemacht hat. Im Urlaub war ihm das Medikament ausgegangen. Die Schmerzen wurden wieder stärker, doch er hatte keine Entzugserscheinungen, wie er es vom Morphium kannte: Da fing er schon nach einem Tag zu zittern an und wurde tieftraurig.
Carmen Masur ist Inhaberin der Apotheke auf dem Gelände der Ravensburger Elisabethen-Klinik. Cannabis-Blüten durfte sie zwar früher schon an Patienten abgeben, jedoch nur an jene, die eine Sondergenehmigung bei der Bundesopiumstelle am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) beantragt hatten. Neu ist, dass nun jeder Kunde, der mit einem entsprechenden Rezept vom Arzt in die Apotheke kommt, diese Blüten zur Therapie auch erhält. Bevor sie Cannabis zum ersten Mal abgibt, ist sie nun lediglich verpflichtet, die Verschreibung des Arztes auf dem Betäubungsmittelrezept zu überprüfen. Die Kostenübernahme muss der Patient bei der Krankenkasse genehmigen lassen.
Doch zurzeit kommt sie gar nicht an Cannabis-Blüten heran. Die Kasse bezahlt immer nur eine bestimmte Cannabis-Sorte mit einem bestimmten THC-Gehalt. THC steht für Tetrahydrocannabinol, das auch Dronabinol genannt wird, einer der Hauptwirkstoffe von Cannabis. Es gibt zwei Sorten mit dem höchsten THC-Gehalt von 22 Prozent, die am ehesten verschrieben werden: Bedrocan aus den Niederlanden und Pedanios 22/1 aus Kanada. Bis 2019/2020 werde es wahrscheinlich dauern, bis eine Versorgung aller Patienten in Deutschland möglich sei, schätzt Carmen Masur. Seit das Gesetz in Kraft ist, hat die 36-Jährige drei Kunden, die sie momentan nicht mit den Cannabis-Blüten beliefern kann. Dass es zur Zeit bei Cannabis-Blüten große Lieferschwierigkeiten gibt, bestätigt auch Stefan Möbius von der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg auf Anfrage dieser Zeitung.

Nicht bei jedem wirksam
Bernd Dambachers Ärztin verwendet keine Cannabis-Blüten, sondern Dronabinol, teilsynthetisch hergestelltes Cannabis. Denn Ulrike Korth und Arzt-Kollegen, die sie kennt, haben mit Blüten noch keine Erfahrung. „Diese haben auch einen unterschiedlichen Gehalt an THC“, sagt sie.
Diese Rezeptur stellt die Apotheke her, und die Patienten können sie tröpfchenweise dosieren. Das Medikament wird langsam gesteigert, um die Nebenwirkungen kleinzuhalten und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie viel der Patient braucht. Auch Tumorpatienten gibt Ulrike Korth Cannabis, das gegen Übelkeit, Appetitlosigkeit und Antriebsschwäche gut wirksam ist. „Es ist toll zu sehen, wie die Patienten aufblühen“, sagt die 57-Jährige. Teilweise könne sie durch das Cannabis die Opiatdosis abschwächen. So kommt sie aus der Steigerungsschleife heraus, wie sie Bernd Dambacher erlebt hat. Doch nicht bei allen Patienten mit neuropathischen Schmerzen wirke Cannabis. Man müsse es im Einzelfall prüfen und im Zweifel auch wieder absetzen.
Jeden Abend um 19 Uhr nimmt Bernd Dambacher die Tropfen. Nach zwei Stunden wirken sie so, dass er noch Schmerzen der Stufe 4 hat und einschlafen kann. Am Tag danach steigern sich die Schmerzen wieder, bis sie kurz vor der neuerlichen Einnahme bei 7 oder 8 liegen. Unter den Opiaten war er ständig müde. Das Familienleben litt darunter.
Wie hat er das all die Jahre ausgehalten? „Arbeiten hilft“, sagt er. Er müsse sich immer beschäftigen. „Ein Urlaub am Strand geht gar nicht“, sagt er. In der Schmerztherapie hat er neben Gruppen- und Einzelpsychotherapie auch Entspannungsverfahren gelernt, um sich ablenken zu können. Seiner Ärztin ist es wichtig, genau zu prüfen, ob Cannabis ihren Patienten hilft und sie es vertragen. Bernd Dambacher spürt keine Nebenwirkungen.
Als das neue Gesetz eingeführt wurde, sagte der damalige Gesundheitsminister Gröhe: „Schwer kranke Menschen müssen bestmöglich versorgt werden. Dazu gehört, dass die Kosten für Cannabis als Medizin für Schwerkranke von ihrer Krankenkasse übernommen werden, wenn ihnen nicht anders wirksam geholfen werden kann.“
Das normale Genehmigungsverfahren muss seitens der Kassen nach drei bis fünf Wochen abgeschlossen sein, so sieht es das Gesetz vor. Bei Palliativpatienten, die an einer nicht heilbaren, fortschreitenden Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung leiden, muss die Genehmigung spätestens nach drei Tagen vorliegen. „Diese Fristen halten die Krankenkassen nicht unbedingt ein“, so Ulrike Korths Erfahrung.

Probleme mit den Krankenkassen
Doch auch die Übernahme der Kosten seitens der Krankenkasse ist ein Problem. Eigentlich darf diese eine Verordnung nur „in begründeten Ausnahmefällen“ ablehnen, selbst wenn der Arzt die Behandlung für angezeigt hält.
Nachdem die Krankenkasse zwei von Ulrike Korth vorgelegte Gutachten abgelehnt hat, soll der Medizinische Dienst der Krankenkasse Bernd Dambacher nun persönlich begutachten. Bis eine Entscheidung gefallen ist, muss er sein Medikament selbst bezahlen. Das sind jeden Monat 500 Euro. Eigentlich sei das völlig unverständlich, zumal die Opiate, die er ansonsten bräuchte, teurer seien als das Cannabis, sagt Ulrike Korth. Trotzdem soll die Ärztin nach Ansicht der Krankenkasse Bernd Dambacher weiter mit Opiaten behandeln. In diesem Bereich seien die Therapiemöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft, so die Argumentation der Kasse.
Früher schon haben die Kassen nur in Einzelfällen bezahlt. Privatdozent Michael A. Überall, Präsident der Deutschen Schmerzliga, kritisiert in der Ärzte-Zeitung die restriktive Haltung der Kassen: „Damit boykottieren sie die wissenschaftliche Begleiterhebung, mit der nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren eigentlich geklärt werden sollte, bei welchen Indikationen der Einsatz sinnvoll ist und bei welchen nicht.“ Auch Bernd Dambachers Daten fließen in die Erhebung der Bundesopiumstelle ein.
Schmerzfrei wird Bernd Dambacher nie mehr in seinem Leben sein. Für Patienten wie ihn bleibt zu hoffen, dass es für Cannabis bald aussagekräftige Studien gibt und eine Indikation, bei welchen Krankheiten es angewendet werden kann. Als er sich an diesem Nachmittag von seiner Ärztin verabschiedet, ist es 17 Uhr geworden. In zwei Stunden nimmt er seine nächste Dronabinol-Dosis. Wo liegt sein Schmerzlevel jetzt? „Bei 6“, antwortet er. Und wie fühlt sich das an? „Haben Sie sich“, fragt er, „schon mal den Finger in eine Tür eingeklemmt?“
Medizinal-Hanf
Die Hanfpflanze enthält mehr als 60 sogenannte Cannabinoide, also Stoffe, die eine pharmakologische Wirkung haben. Zu den wichtigsten Wirkstoffen zählen Tetrahydrocannabinol (THC, auch Dronabinol genannt) und Cannabidiol (CBD). Das THC ist für die cannabis-typischen berauschenden Wirkungen bekannt, das „High“-Gefühl. CBD werden antiepileptische, angstlösende, antipsychotische und entzündungshemmende Eigenschaften zugeschrieben. Verschreibungsfähig ist das THC als Medikament bereits seit 1998. Eine Verordnung gegen spastische Schmerzen bei Multipler Sklerose oder gegen Erbrechen bei Tumorpatienten war möglich. Bei neuropathischen Schmerzen dagegen musste man es im Einzelfall beantragen. (ink)
Was ist Cannabis?
- Ursprung: Cannabis ist die wissenschaftliche Bezeichnung für die Hanfpflanze. Grabbeigaben und Texte aus der Zeit ab 2700 v. Chr. belegen, dass schon die Chinesen den Hanf und dessen psychoaktive Substanzen schätzen, die sie medizinisch einsetzen. Der römische Gelehrte Plinius der Ältere beschreibt den Einsatz der Pflanze gegen Schmerzen. Johannes Gutenberg druckte 1455 seine berühmt gewordene Gutenberg-Bibel auf Hanfpapier. Auch in der Schifffahrt waren Hanf-seile und Segeltuch aus Hanf beliebter als Baumwolle, da Hanf im Salzwasser haltbarer ist und auch nicht so viel Wasser aufnimmt.
- Krankheiten: Vorrangig wird Cannabis eingesetzt bei chronischen neuropathischen Schmerzen, schmerzhaften spastischen Lähmungen bei Multipler Sklerose oder Querschnittslähmung, bei von Chemotherapie verursachtem Erbrechen und Appetitlosigkeit, auch von HIV- und Aidspatienten sowie beim Tourette-Syndrom oder Epilepsie.
- Schmerzpatienten: Nach Angaben der Deutschen Schmerzgesellschaft leiden 2,2 Millionen Menschen in Deutschland an chronischen (nicht tumorbedingten) Schmerzen, denen Cannabis Linderung bringen könnte.
- Droge: Wer Haschisch konsumiert, das aus dem Pflanzensaft gewonnen wird, macht sich weiterhin strafbar. Das gilt ebenso für die getrockneten Blüten und Blätter der weiblichen Hanfpflanze, die als Marihuana („Gras“) geraucht werden. Cannabis ist die am häufigsten illegal konsumierte Droge in Deutschland. Während Freizeitkonsumenten den Rauschzustand suchen, geht es bei Patienten um die Symptomlinderung einer Krankheit.
- Cannabisagentur: Als am 10. März das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften in Kraft trat, wurde nicht nur die Möglichkeit erweitert, Cannabisarzneimittel zu verschreiben, sondern auch die Einrichtung einer staatlichen Stelle beschlossen, der sogenannten Cannabisagentur. Sie ist beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte angegliedert und steuert den Cannabis-Anbau für medizinische Zwecke in Deutschland – das heißt sie kontrolliert auch die Ernte, die Verarbeitung, Qualitätsprüfung, Lagerung und Verpackung. Die Agentur vergibt den Anbau in einem europaweiten Ausschreibungsverfahren. Bis 2019 soll es gelingen, schwer kranke Patienten mit hierzulande angebautem Cannabis zu versorgen. (ink)