Wolfgang Manok aus Worblingen hat Glück im Unglück gehabt, als er nach der Operation seines Oberschenkelhalsbruchs ins Zentrum für Altersmedizin am Hegau-Bodensee-Klinikum Radolfzell kam. Diese Fachklinik für alte Menschen ist noch immer ein Exot im Südwesten. Inzwischen gibt es, wie Chefarzt Achim Gowin sagt, zwar an verschiedenen Häusern Abteilungen, die ältere Menschen behandeln, doch in Radolfzell sei noch immer die größte Akutgeriatrie im Umkreis. „Als ich 2012 kam, gab es hier nichts“, erinnert er sich. Er selbst ist Facharzt für Innere Medizin, Klinische Geriatrie, Physikalische Therapie und Palliativmedizin.

Im Ruhrgebiet, wo er zuvor 30 Jahre lang als Arzt gearbeitet und eine solche Klinik aufgebaut hat, habe es schon in den 80er-Jahren Städte mit ganzen Stadtteilen gegeben, in denen nur alte Menschen lebten. Dort habe es viel früher die Notwendigkeit gegeben, eine Struktur für eine Altersmedizin zu schaffen. Im Süden siedelten sich dagegen in den ländlichen Regionen eher Reha-Kliniken an. „Hier hat man diese Entwicklung sehr lange verschlafen, sowohl, was die Menge der Altenheim-Pflegeplätze, der Kurzzeit-Pflegeplätze als auch die klinischen Einrichtungen der Altersmedizin betrifft“, sagt Gowin.

 

Ärger über Krankenhausreport 

Deshalb ärgern ihn auch Berichte wie der Barmer Krankenhausreport 2017, der den Kliniken vorwirft, dass sie ältere Menschen nicht optimal versorgen. Die Dauer des Klinikaufenthaltes hänge eher von Vergütungsanreizen ab als von medizinischen Kriterien oder dem individuellen Bedarf, so die Kasse. "Die Krankenkassen mögen die Akutgeriatrie nicht besonders, weil sie teurer als die Reha ist", sagt der 61-jährige Chefarzt aus Radolfzell. Auch Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, weist den Vorwurf zurück, dass die Kliniken die Klinik-Reha vor allem aus finanziellen Gründen ausgeweitet hätten.

Eine geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung kostet laut Barmer bei Oberschenkelhalsbruch mit 14 Behandlungstagen 950 Euro mehr als eine klassische Rehabilitation, die je Geriatrie-Patient im Schnitt 3100 Euro koste. Die Kasse moniert, dass viele Kliniken die Patienten künstlich länger behalten, um die Fallpauschale, die jeweils nach sieben, 14 und 21 Tagen gestaffelt ist, zu bekommen. "Wir haben die Fallpauschale in jedem Fall verdient, denn wir arbeiten sehr intensiv mit den Patienten", wehrt sich Gowin. „Und wir bekommen sie selten vor 14 Tagen auf die Beine, denn sie sind sehr krank.“ Im Durchschnitt bleiben sie 18 Tage. "Ältere Patienten brauchen mehr Zeit, die in der durchökonomisierten Krankenhauslandschaft oft fehlt", führt die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher, in einem Interview an.

Bild 1: Die älteste Patientin ist 102: So arbeitet das Zentrum für Altersmedizin in Radolfzell

Krankengymnastik und Logopädie

Medizinisch werden die Patienten im Radolfzeller Zentrum für Altersmedizin wie in einem Krankenhaus behandelt, doch verschiedene Therapeuten und Reha-Spezialisten, wie beispielsweise Ergo-, Physiotherapeuten und Logopäden sind vom ersten Tag an in die Behandlung eingebunden, um den Patienten zu mobilisieren. Mit jedem Tag, den ein Patient länger liege, steige das Risiko, dass er nicht mehr aufstehen könne, weil sich die Muskulatur schon zu weit abgebaut habe, sagt der Arzt.

Die Patienten kommen eine Woche nach der Behandlung aus einer der umliegenden Kliniken nach Radolfzell oder werden direkt vom Hausarzt überwiesen. Die älteste Patientin ist zur Zeit 102 Jahre alt. Während die Reha-Kliniken auf die Nachbehandlung von Patienten spezialisiert seien, die schon wieder eine gewisse Selbständigkeit erreicht haben, seien die Patienten, die zu ihm in die Klinik kommen, zu krank für eine klassische Reha-Klinik. Oft sind sie schwach, bettlägerig, dement, haben eine Knochenkrankheit, eine Herzschwäche oder einen Herzinfarkt erlitten, kämpfen mit einer abklingenden Lungenentzündung oder den Folgen eines Schlaganfalls. Vielen machen die Nachwirkungen einer Operation zu schaffen, sie haben starke Schmerzen oder Wunden, die schlecht verheilen.

Achim Gowin und seinem Team ist es wichtig, diese multimorbiden Patienten möglichst schnell wieder aus dem Bett zu bekommen. So laufen die medizinische Akutbehandlung und die Früh-rehabilitation von Anfang an parallel. "Je früher die Patienten zu uns verlegt werden, desto besser", sagt er.

Den Patienten kennenlernen

Am ersten Tag lernt das Team den Patienten kennen. „Herr Manok hatte eine Herzschwäche, Wasser in den Beinen, massive Schmerzen und eine Wundheilungsstörung, als er zu uns nach seinem Oberschenkelhalsbruch kam.“ In einem sogenannten geriatrischen Assessment geht es darum zu erfassen, wie es dem Patienten körperlich, geistig und psychisch geht. Die Ärzte und Therapeuten interessiert, wie selbstständig und in welchem sozialen Umfeld der Patient bisher gelebt hat.

Krankenpflegerin Linda Schellinger schaut, dass der 98-jährige Mann genug trinkt. Auf ihrer Station sind zur Zeit drei Stellen in der ...
Krankenpflegerin Linda Schellinger schaut, dass der 98-jährige Mann genug trinkt. Auf ihrer Station sind zur Zeit drei Stellen in der Pflege unbesetzt. | Bild: Sabine Tesche

Ziel ist es auch bei erheblich eingeschränkten Patienten, diese möglichst wieder in die vertraute Umgebung zu Hause entlassen zu können. Physio- und Ergotherapeuten schauen, was sie ihm zumuten, wie sie ihn aktivieren und fördern können: Kann sich der Patient mit ihrer Hilfe an die Bettkante setzen und vielleicht sogar ins Stehen kommen? Einmal in der Woche treffen sich die Mitarbeiter in großer Runde, um sich im Team über jeden Patienten auszutauschen.

Achim Gowin ist ein Arzt, der seine Patienten berührt, wenn er mit ihnen spricht. „Guten Morgen“, begrüßt er den 98-jährigen Herrn, der vor einem Teller mit Nudeln, Fleisch und Brokkoli sitzt, legt ihm die Hand auf den Arm und beugt sich zu dem alten Mann hinunter, um ihm in die Augen zu sehen. „Haben Sie keinen Hunger?“ „Nein“, sagt der alte Mann kopfschüttelnd. Er war gestürzt und hatte sich eine schwere Prellung zugezogen. Doch er ist zu schwach um aufzustehen und durchlebt immer wieder Verwirrtheitszustände.

Es mache ihn demütig zu erleben, was diese alten Menschen als letzte Zeitzeugen der Weltkriege erlebt, aber auch geleistet haben. Viel Respekt hat der Chefarzt auch vor den Leistungen seiner Mitarbeiter. Sie begleiten die Patienten in ihrer Hilflosigkeit und immer wieder auch beim Sterben. So wie Linda Schellinger, 26, die dem alten Herrn gut zuredet, damit er ein bisschen isst. Oder ihre Kollegin, Angela Harms, 58, die seit 25 Jahren Krankenschwester ist, und die die 14 Patienten nachmittags übernimmt. Es gebe Tage, an denen bis zu 20 Patienten auf der Station seien und sie nicht wisse, wo sie anfangen solle, sagt sie.

Kritik am Report der Barmer

Die Barmer führt an, dass Patienten mit einem Oberschenkelhalsbruch nach einer frührehabilitativen Maßnahme mit 47-prozentiger Wahrscheinlichkeit pflegebedürftig werden, im Gegensatz zu 40 Prozent in der klassischen Reha. „Wir haben hier viel problematischere Patienten“, sagt Chefarzt Gowin. „Insofern sind solche Zahlen unfair und ein Schlag ins Gesicht der wenigen Menschen, die noch gerne diese Schwerstkranken betreuen.“

Dass demente Patienten durch einen Aufenthalt in der Klinik traumatisiert werden können, wie es die Barmer feststellt, streitet Gowin gar nicht ab. „Natürlich kann das so sein.“ Auch in der Geriatrie seien sie noch nicht ausreichend auf solche Patienten eingestellt. „Aber was machen Sie mit einem 85-jährigen dementen Patienten, der eine schwere Lungenentzündung hat, einen Herzinfarkt, der kaum noch Luft kriegt und der delirant ist und um sich schlägt und niemanden mehr erkennt?", sagt er.

"Für Demente sind wir zunächst Fremde, durch die sie sich bedroht fühlen.“ Solche Patienten, die teilweise aggressiv sind und einen verkehrten Tag-/Nachtrhythmus haben, bräuchten kreisförmig angelegte Stationen, um ihrem Bewegungsdrang nachgeben zu können, so Gowin. Auf den vier Stationen der Geriatrie in Radolfzell und anderswo kann man davon nur träumen. Von den 60 Betten können zur Zeit nur 52 belegt werden, weil drei Pflegestellen nicht besetzt sind.

Wolfgang Manok hat sich durchgekämpft. "Das habe ich schon gemacht, als ich ein kleiner Junge war", sagt er. In den nächsten Wochen wird er noch auf seinen Rollator angewiesen sein. Doch der 80-Jährige will bald wieder alleine laufen. Ein Patient mit Happy End.

 

Was ist Geriatrie?

Die Geriatrie, auch Altersmedizin genannt, ist ein Zweig der Medizin, der sich mit den Krankheiten älterer Menschen und deren präventiven, klinischen, rehabilitativen und sozialen Aspekten beschäftigt. Während sie in den meisten Ländern Europas als eigenständiges Fach oder Schwerpunkt der Inneren Medizin gilt, ist Deutschland hier noch am Anfang. Bisher ist sie als Schwerpunkt in der Inneren Medizin nur in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt anerkannt. Universitäten richten zunehmend Lehrstühle für Geriatrie ein. Berufstätige Ärzte können sich zum Geriater fortbilden.

 

Die Situation in den Kliniken

  • Lebenserwartung: Sie steigt seit den 1980ern stetig. Mädchen haben bei der Geburt laut Statistischem Bundesamt mehr als 83 Jahre vor sich. Für neugeborene Jungen beträgt die Lebenserwartung mehr als 78 Jahre. Damit haben Mädchen innerhalb des letzten Jahrzehnts eineinhalb Jahre gewonnen, Jungen zweieinviertel Jahre.
  • Krankenhausreport: In Deutschlands Kliniken liegen immer mehr über 70-jährige Menschen – und sie werden dort nicht optimal versorgt. Zu diesem Ergebnis kommt der Barmer-Krankenhausreport 2017.
    So gehe es bei der Dauer des Aufenthalts oft stärker um die Vergütung als um den tatsächlichen medizinischen und individuellen Bedarf, kritisiert die Kasse. "Finanzielle Fehlanreize können jedoch dafür sorgen, dass Geriatrie-Patienten länger als nötig oder kürzer als erforderlich im Krankenhaus versorgt werden", heißt es wörtlich. Geriatrie-Patienten sollten nach Möglichkeit an größeren, multidisziplinär aufgestellten Krankenhäusern behandelt werden. Dort hätten sie bessere Chancen, wieder auf die Beine zu kommen, heißt es.
  • Multimorbide Patienten: Bei den alten Patienten handelt es sich oft um multimorbide Patienten, die an mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden. Zwischen 2006 und 2015 stieg die Zahl der über 70-jährigen Patienten laut Barmer Krankenhausreport um 80 Prozent, von 1,1 auf zwei Millionen.
  • Diagnosen: Der Oberschenkelhalsbruch ist laut Barmer-Krankenhausreport mit 15 Prozent die häufigste Hauptdiagnose, gefolgt von Störungen des Ganges und der Mobilität (7 Prozent). Die Patienten sind im Durchschnitt 84 Jahre alt, 70 Prozent von ihnen sind Frauen.
  • GFKB: Die geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung oder auch geriatrische Frühreha findet direkt in der Klinik oder aber in einer geriatrischen Akutklinik statt. Sie beinhaltet die akute Behandlung und die gleichzeitige Rehabilitation in der Klinik, kann aber auch auf eine klassische Reha-Behandlung vorbereiten. Ein Krankenhaus kann eine höhere Fallpauschale abrechnen, wenn Patienten eine solche Komplexbehandlung bekommen und diese dafür mindestens zwei Wochen auf Station bleiben.
  • Klassische Rehabilitation: Sie wird von den Rehabilitationskliniken übernommen. Da die klassische Reha über Tagessätze abgerechnet wird, ist sie deutlich günstiger als die Früh-Reha in der Klinik, für die je nach Aufenthaltsdauer Fallpauschalen abgerechnet werden. (ink)