Haben Sie Erektionsstörungen oder andere Probleme beim Sex? Darüber sollte man reden können – nicht nur mit seinem Partner, sondern auch mit seinem Arzt oder Therapeuten. Die sollten das bei ihrer Ausbildung eigentlich lernen. Doch das ist in Deutschland noch immer nur vereinzelt möglich.
Denn auch 2018 – 50 Jahre nach Forderungen der 68er-Bewegung nach freier Liebe, nach unzähligen Sex-Formaten im Fernsehen und politischen Kehrtwenden etwa bei der Ehe für alle – sind sexualwissenschaftliche Lehrstühle in der Bundesrepublik rar. „Die aktuelle Situation in Deutschland ist ein Armutszeugnis“, sagt Heinz-Jürgen Voß von der Gesellschaft für Sexualwissenschaft. Überall dort, wo Menschen mit Menschen zu tun haben – in Kitas, Schulen, Einrichtungen der Sozialen Arbeit sowie Bildungseinrichtungen für Erwachsene -, spielten Fragen zu Körper, Geschlecht und Sexualität eine Rolle. „Das bedeutet, dass Fachkräfte ausgebildet sein sollten, professionell mit den entsprechenden Fragen umzugehen.“
Das Problem werde zwar zunehmend erkannt, gerade im Zuge der Prävention vor sexualisierter Gewalt. „Aber bislang gehen die entwickelten Curricula zur Prävention vor sexualisierter Gewalt und zur sexuellen Bildung nicht oder nur ganz zögerlich in die Aus-, Fort- und Weiterbildung ein“, sagt Voß, der an der Hochschule Merseburg Professor für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung ist.
Dort kommen 180 Bewerbungen auf 24 Master-Plätze. Hier lernen Studenten etwa rechtliche Grundlagen sexueller Bildung und Beratung oder religiöse und kulturelle Hintergründe. Jobs könnten sie in Familienberatung, Aids-Hilfen, Kinderschutzdiensten, bei Gesundheitsämtern, Verbänden und in der Behindertenpädagogik finden.
Ein zweites sexualwissenschaftliches Zentrum in Deutschland ist Hamburg mit einem medizinischen und interdisziplinären Schwerpunkt. Am Uniklinikum Eppendorf (UKE) müssen alle Medizinstudenten Kurse über sexuelle Störungen belegen und lernen mit Simulationspatienten Sexualanamnese – ein klärendes Gespräch zwischen Arzt und Patient.
Deutschlands Sex-Aufklärer
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Magnus Hirschfeld (1868-1935)Der Mediziner gilt als einer der Pioniere der Sexualwissenschaft und war Mitbegründer der ersten Homosexuellen-Bewegung. Er gründete 1908 die „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“. Sein 1919 aufgebautes „Institut für Sexualwissenschaft“ in Berlin war weltweit das Erste seiner Art. Es wurde 1933 von den Nazis geplündert und zerstört. Der jüdischstämmige Hirschfeld emigrierte in die Schweiz und nach Frankreich.
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Oswalt Kolle (1928-2010)Der Autor und Journalist wurde vor allem durch seine Filme zur sexuellen Aufklärung bekannt. Vor der Uraufführung von „Das Wunder der Liebe“ musste er mit den behördlichen Zensoren verhandeln. Einer sagte den berühmt gewordenen Satz: „Herr Kolle, Sie wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen!“ Kolle sah sich anfangs heftigen Anfeidungen ausgesetzt.
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"Dr. Sommer" - Martin Goldstein (1927-2012)Der Arzt, Psychotherapeut und evangelische Religionslehrer schrieb von 1969 bis 1984 unter dem Pseudonym „Dr. Jochen Sommer“ Sex-Aufklärungs-Kolumnen in der Jugendzeitschrift „Bravo“. Generationen von pubertierenden Schülern holten sich hier erste Tipps über Sex und Liebe. Das Format „Dr. Sommer“ wurde nach Goldsteins Ausscheiden weitergeführt.
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Erika Berger (1939-2016)Die Autorin und TV-Moderatorin erreichte mit ihrer Sendung „Eine Chance für die Liebe“ zwischen 1987 und 1991 für den Privatsender RTL ein Millionen-Publikum. Dabei beantwortete sie Fragen der Zuschauer zum Thema Sex. Sexualtherapeuten meldeten jedoch Kritik an. So wurde der Einwand vorgebracht, Berger betreibe Propaganda für den Seitensprung.
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Beate Uhse (1919-2001)Die vormalige Pilotin startete ihre große Karriere als millionenschwere Sexversand-Unternehmerin in der Nachkriegszeit mit dem Druck der Broschüre „Schrift X“ über die Verhütungsmethode nach Knauss-Ogino (Kalendermethode). 1962 eröffnete Uhse in Flensburg den ersten Sexshop der Welt – Grundstein für ihr Erotik-Imperium, das 1999 an die Börse ging, inzwischen aber insolvent ist.
„Jeder Hausarzt sollte in der Lage sein, Fragen zur Sexualität zu stellen“, sagt der Direktor des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am UKE, Peer Briken. „Probleme in der Sexualität können wegweisend für andere Erkrankungen sein.“ So tauchten Erektionsstörungen als Vorboten von Herz-Kreislauf-Problemen auf. Aber auch Internisten, Urologen, Gynäkologen und Dermatologen, die etwa sexuell übertragbare Krankheiten behandeln, sollten aus Brikens Sicht für Anamnese-Gespräche geschult sein. „Untersuchungen zeigen, dass Patienten auf solche Themen angesprochen werden möchten und dass sie sie nicht selbst ansprechen müssen.“
Sexualwissenschaftliche Angebote gibt es auch in Kiel (Sexualpädagogik), Berlin (medizinisch) und seit kurzer Zeit an der Angewandten Hochschule in Frankfurt/Main (Sexualpädagogik). An anderen Hochschulen gibt es nur einzelne Projekte. „Wir brauchen an drei oder vier Standorten eigene Masterstudiengänge, um die Leute fit zu machen“, sagt Heinz-Jürgen Voß.
Stattdessen sind Rückschläge zu verzeichnen: Mit der Emeritierung von Volkmar Sigusch 2006 schloss die Frankfurter Goethe-Universität das Institut für Sexualwissenschaft. Ein Sprecher nennt als Gründe eine Neustrukturierung der Universitätsmedizin, auch unter Berücksichtigung finanzieller Ressourcen, sowie ein neues Konzept der hessischen Hochschulmedizin. Sigusch hingegen sieht die politische Einstellung insbesondere konservativer Politiker und Missgunst anderer Wissenschaftler als ausschlaggebend an.
„An den allermeisten Universitäten gibt es nicht einmal eine einzige Person, die fachlich in der Lage ist, wenigstens einen wesentlichen Teil der Sexualwissenschaft zu lehren“, moniert Volkmar Sigusch. Entsprechend sei die Praxis. Für ernste sexuelle Störungen oder Krankheiten würden verzweifelt qualifizierte Therapeuten gesucht. Sigusch spricht sich für Spezialisierungen etwa in Psychologie und Medizin aus.
Die Entwicklung gerade in Deutschland hält der Merseburger Professor Konrad Weller für paradox, liege hier doch die Wiege der Sexualwissenschaften. Das von dem Mediziner Magnus Hirschfeld 1919 gegründete Institut für Sexualwissenschaft in Berlin demolierten die Nazis. Nach dem Krieg dauerte es zehn Jahre, bis das erste universitäre Institut in Hamburg startete. „Heute sind viele Ansätze merkwürdig distanziert“, sagt Weller. Es gehe um politische Fragen der Diskriminierung oder um Genderstudies. „Das hat aber wenig mit Sexualität an sich zu tun.“
Die Kultusministerkonferenz (KMK) tut derzeit nichts, um dem Mangel abzuhelfen und verweist stattdessen auf die Hochschulautonomie. Es sei den Hochschulen überlassen, wie sie welche Fächer abdecken. In der „Empfehlung zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule“ der KMK werden Sexualerziehung und Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten wie Aids als Themen aufgeführt, die in den Unterricht und in das Schulleben integriert werden sollen.
Etwa mit Blick auf Bildungspläne spricht Wissenschaftler Voß von mehr Relevanz sexualwissenschaftlicher Aufklärung. „Wir hatten eine lange Zeit der Tabuisierung.“ Inzwischen sei der Bedarf zwar erkannt, ihm werde aber nicht ausreichend Rechnung getragen. In den USA, wo trotz der Lockerungsübungen von Hollywood die Prüderie weit verbreitet ist, sehe es nicht besser aus als in Deutschland. „Wirft das nicht einen traurigen Schatten auf den einst aufklärerischen Westen?“