Der Chef hat ausgerechnet mich für die Wochenendarbeit eingeteilt. Die Beziehung steht vor dem Aus. Manche Begegnungen vermitteln das Gefühl, klein und wertlos zu sein. Oft handeln wir nach in der Kindheit erworbenen Glaubenssätze und geraten dabei in Situationen wie diese. Wie kann man sich helfen? „Wer weiß, wer er ist, sein authentisches Selbst kennt und in seiner Einzigartigkeit akzeptiert, ist der inneren Zufriedenheit ganz nah“, sagt Psychologin und Bestsellerautorin Stefanie Stahl.

Stefanie Stahl, 60, gilt als Deutschlands bekannteste Psychotherapeutin. Ihre Vorträge und Seminare zu den Themen Beziehungen, ...
Stefanie Stahl, 60, gilt als Deutschlands bekannteste Psychotherapeutin. Ihre Vorträge und Seminare zu den Themen Beziehungen, Selbstwertgefühl und praxisnahe Psychologie stoßen auf große Resonanz. | Bild: Corinna Nogat / GLAMPOOL

Frau Stahl, die Prägungen unserer ersten Lebensjahre können unsere Gefühle und Handeln in der Gegenwart so stark beeinflussen, dass wir kaum noch freie Entscheidungen treffen können. Braucht es Leidensdruck, um zu fragen, warum das so ist und wie wir ticken?

Unser Selbstwertgefühl wird schon in den frühen Lebensjahren geprägt und wir nehmen es als unveränderbar hin. Entscheide ich mich bei der Partnerwahl immer wieder für den falschen Typ Mann oder verhindert meine Angst vor Ablehnung soziale Bindungen einzugehen, dann braucht es Selbstreflexion und Selbsterkenntnis. Dann lohnt es sich, genauer hinzuschauen, um alte Prägungen zu erkennen und mit einem gezielten Training aufzulösen, zu korrigieren.

Wann ist es sinnvoll, sich mit seiner Psyche zu befassen?

Das ist immer sinnvoll. Unsere Psyche ist Wahrnehmung, Bewusstsein, emotionales Erleben, Denken und Verhalten. Wir sind unsere Psyche! Daher ist es hilfreich, sich zu reflektieren und einen Plan von seinem eigenen „Bausatz“ zu haben, um zu schauen: Wo bin ich in Balance, wo finde ich eine eher ungünstige Prägung? Nicht jedes Gefühl kommt aus dem gesunden Anteil meiner Persönlichkeit und nur mit Selbstreflexion gelingt es mir, Abstand von alten Mustern zu nehmen.

Sie sagen: Die Psyche basiert auf vier Grundbedürfnissen.

Richtig, das ist zum einen der Wunsch nach Bindung und Zugehörigkeit – im sozialen Miteinander, wie auch in einer Liebesbeziehung. Zum Zweiten streben wir nach Autonomie und Kontrolle, um das eigene Schicksal zu beeinflussen. Drittens möchten wir unser Selbstwertgefühl erhöhen und stabilisieren und viertens geht es darum, möglichst gute Gefühle zu erlangen und schlechte, wie Kränkung oder Scham, zu vermeiden.

In Ihren Büchern geht es um das „Innere Kind“ und das „Schattenkind“. Was ist damit gemeint und inwiefern spielt es eine Rolle für die Selbsterkenntnis?

Die Begriffe stehen für alle Kindheitsprägungen, die unser Gehirn formatiert haben und die unsere Gefühle, Gedanken und das Tun beeinflussen. Der Schattenkind-Anteil ist der, der uns immer wieder Probleme bereitet, gerade dann, wenn er unreflektiert bleibt. Er spielt eine große Rolle, weil das Gehirn die Vergangenheit mit der Gegenwart verwechselt. Als Beispiel: Wenn mein Schattenkind in der Kindheit erfahren hat, dass es nur dann geliebt wird, wenn es gut ist und abliefert, wird sich der Erwachsene immer furchtbar anstrengen, um akzeptiert und geliebt zu werden. Daher ist es wichtig, dieses alte Programm zu überprüfen und sich klarzumachen, dass diese Prägung willkürlich ist und eher etwas über das Verhalten meiner Eltern als über meinen Wert aussagt

Immer wieder begegnen wir Menschen, die uns einschüchtern. Die Psychologie vermutet, dass sich dahinter die Projektion der eigenen Unterlegenheit verbirgt.

Das hängt mit unserem Bindungsbedürfnis und Selbstwertgefühl zusammen, mit dem Wunsch, angenommen zu werden und dazuzugehören. Gefühle sind die Essenz unseres Bewusstseins. Fühle ich mich minderwertig, ist die Sicht auf andere schnell negativ eingefärbt. Wenn ich jemandem begegne, der mir überlegen ist oder ich Ablehnung spüre, dann löst das zunächst Unsicherheit aus und wir neigen entweder dazu, uns innerlich zurückzuziehen oder mit Aggressivität zu reagieren. Manchmal kommt es auch zu anderen in der Kindheit erworbenen Kompensationsstrategien, wie einem überhöhten Perfektions- und Harmoniestreben oder einem starken Machtbedürfnis.

Wieso fällt es so schwer, die alten Prägungen loszuwerden?

Wenn wir verstehen wollen, wie sich jemand verhält, müssen wir uns alle Grundbedürfnisse anschauen, denn in der Regel setzen wir ein Bedürfnis ein, um die anderen zu erfüllen. Wenn ich etwa an meinem niedrigen Selbstwertgefühl festhalte, obwohl mir bewusst ist, dass das nicht der Gegenwart, sondern aus der vergangenen Prägung heraus resultiert, kann es eine Funktion haben.

Ein Grund wäre, die Loyalität den eigenen Eltern gegenüber zu beschützen. Erst wenn ich mir eingestehe, dass die Eltern wahrhaftig Fehler gemacht haben, ich aber in Ordnung bin, wie ich bin, wird es möglich sein, eine Distanz zu schaffen und vielleicht auch Wut zulassen, die mir hilft, mich von ihnen zu lösen. Wir nennen das in der Psychologie Trennungsaggression.

Das ist ein Muster, das man auch in Liebesbeziehungen findet . . .

Ja, ist mein Partner immer wieder schwierig, vielleicht sogar gewalttätig, ist es leichter, sich selbst die Schuld für sein Verhalten zu geben und damit die die Hoffnung auf ein mögliches Happy-end aufrechtzuerhalten. Ansonsten müsste ich ja mich trennen. Wenn ich aber Angst vor einer Trennung habe, dann verharre ich lieber in der Situation und denke: Wenn ich mich ändere, wird alles gut. Das verleiht mir die Illusion von Kontrolle.

In Ihrem Buch erzählen Sie von einem Klienten, der an einer Angststörung leidet. Das ist weit verbreitet. Ist es wichtig, die Ursachen herauszufinden, oder ist es nicht sinnvoller, sich auf die Strategien im Umgang damit zu konzentrieren?

Ich habe schon immer gesagt, dass man nicht durch alle Provinzen der Seele latschen und jedes Erlebnis einzeln aufarbeiten muss, dennoch ist es leichter, sich von seinen Ängsten zu distanzieren, wenn man die Ursachen kennt. Wenn man sich aus alten Mustern befreien möchte, braucht es die Klarheit: Du bist nicht deine Vergangenheit – also begib dich ins Hier und Jetzt. Leide ich an der Angst vor Ablehnung, und möchte deshalb eine Einladung absagen, kann ich, sobald ich die aus der Kindheit resultierende Angst bemerke, auf Erwachsen umstellen und einen selbst beruhigenden inneren Dialog führen und mir sagen: „Bei Mama und Papa habe ich Ablehnung erfahren, aber ich bin völlig in Ordnung! Ich übernehme nun als Erwachsener das Steuer und schaffe Raum für neue Erfahrung.“ Das Vermeiden von Situationen ist kontraproduktiv und dient dazu, die Angst aufrechtzuerhalten.

Sie bieten auch ein Arbeitsbuch mit Übungen an, um den eigenen Bauplan und seine Muster zu verstehen.

Es ist eine einfache und effektive Anleitung zur Selbsterkenntnis und Selbstheilung. Ich führe die Leser durch den Bauplan der Psyche, sodass sie ein tieferes Verständnis dafür gewinnen, wie sie selbst – und andere – ticken und wo man den Hebel für Veränderung ansetzt. Letztendlich ist das, als wollte ich mein Auto reparieren: wenn ich erst einmal verstehe, wie ein Motor grundsätzlich funktioniert, wird mir die Reparatur leichter gelingen.

Bild 2: Belastende Erfahrungen als Kind: Wie Betroffene sich befreien können
Bild: rowohlt

Stefanie Stahl, Wer wir sind. Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Zusammen mit: Das Arbeitsbuch. Sich selbst besser verstehen – glücklicher leben, Kailash-Verlag, beide Bände zusammen 40 Euro.