Vor zwei Wochen ist der Südgipfel des Fluchthorns oberhalb der Tiroler Gemeinde Galtür um 19 Meter geschrumpft. Das Gipfelkreuz, das den Berg in 3399 Meter überragte, steht nicht mehr. Es stürzte zusammen mit rund einer Million Kubikmeter Felsmasse hunderte Meter ins Tal. Sie gleicht der Ladung von 120.000 Lastwagen, um die sich der Berg binnen Sekunden erleichtert hat.

Blick auf einen Bereich des Fluchthorns, nachdem sich Gesteinsmassen gelöst und bergab gerutscht sind. Nach dem Abbruch des Alpengipfels ...
Blick auf einen Bereich des Fluchthorns, nachdem sich Gesteinsmassen gelöst und bergab gerutscht sind. Nach dem Abbruch des Alpengipfels in Tirol haben Geologen das massive Ausmaß des Bergsturzes vermessen. | Bild: dpa

Nach dem Bergsturz machten sich die Geologen sofort an die Arbeit, um sich ein Bild vom neu geformten Fluchthorn-Gipfel zu machen. Dazu schraubten sie einen Laserscanner an einen Hubschrauber und stiegen auf. „Es konnten hochgenaue Daten der Oberfläche des Abbruchgebietes und der unmittelbaren Umgebung gesammelt werden“, erklärte danach Maria Attwenger von der Abteilung Geoinformationen des Landes Tirol.

Glücklicherweise keine Toten und Verletzten

Die Messdaten bildeten das ganze Ausmaß des Felssturzes ab. Nahezu der gesamte Gipfelbereich ist abgebrochen. Glücklicherweise waren keine Bergsteiger und Wanderer am Fluchthorn unterwegs. Warnungen vor einem drohenden Abbruch gab es keine.

Das soll sich im Alpenraum ändern. Wissenschaftler wollen Bevölkerung und Touristen rechtzeitig vor Felsstürzen und Murenabgängen warnen, bevor es zu Verletzten und Toten kommt – wie 2017 am Piz Cengalo im Schweizer Kanton Graubünden. Durch das Bondasca-Tal wälzten sich die Felsmassen bis zur Gemeinde Bondo, acht Menschen starben.

August 2017 in Bondo, Graubünden. Schlamm und Schutt werden von Lastwagen abtransportiert.
August 2017 in Bondo, Graubünden. Schlamm und Schutt werden von Lastwagen abtransportiert. | Bild: dpa

Zwar war den Schweizer Geologen bewusst, dass Gefahr in Verzug ist, doch die Natur ist nie ganz kalkulierbar. Die abstürzenden Massen stießen auf einen kleinen Gletscher, dessen Eis blitzartig pulverisiert und durch die Energie geschmolzen wurde. Das freiwerdende Wasser hielt das Gestein in Fluss und formte einen mächtigen Schuttstrom, der Bondo erreichte.

Vor dem Transport müssen Felsen von Baumaschinen zerkleinert werden.
Vor dem Transport müssen Felsen von Baumaschinen zerkleinert werden. | Bild: dpa

Vor dieser Art von Domino-Effekt warnt Michael Krautblatter, Leiter des Lehrstuhls für Hangbewegungen an der Technischen Universität München (TUM) und einer der führenden Bergsturz-Spezialisten in Deutschland. „Der Klimawandel und die so verursachte Gletscherschmelze lässt in den Alpen neue Seen entstehen“, so der Professor. In zehn bis 20 Jahren könnten es mehr als tausend sein, einige hundert allein in Österreich. „Das steigert die Gefahr von Flutwellen nach einem Bergsturz oder Hangrutsch.“

Dauerfrost zieht sich nach oben zurück

Es bleibt den Forschern also nicht viel Zeit, um zu reagieren. Denn die steigenden Temperaturen gehen den Gipfeln in aller Welt an den Kragen, in den Alpen wird es durch dichte Besiedlung und Tourismus besonders gefährlich. Der Permafrostboden taut, und so kommt der „Kitt der Berge“, wie es Krautblatter gegenüber dem SÜDKURIER formuliert, abhanden.

Der Dauerfrost zieht sich nach oben zurück, „die Grenze hat sich in den vergangenen 30 Jahren um 200 Meter verschoben“, so der Experte. Folge: Bergstürze wie die von Bondo oder am Fluchthorn bleiben zwar Ausnahmen. Aber mit Hangrutschungen, Steinschlag und Murenabgängen ist künftig viel öfter zu rechnen, da sind sich alle Geologen zwischen Genfer See und Steiermark einig.

„Schnelle Lernkurve“

„Damit die Alpen weiter begehbar sind, müssen wir ganz schnell ein Verständnis dafür entwickeln, was da oben vorgeht“, beschreibt Michael Krautblatter den Zeitdruck. Man habe aus der Vergangenheit „keinerlei Erfahrungswerte“, also müsse man nun eine „schnelle Lernkurve“ hinlegen.

Schwere Bergstürze in Europa

Die zeichnet sich am Hochvogel (2592 Meter) in den Allgäuer Alpen bereits ab. Dort bedrängen die Münchner Geowissenschaftler den Berg schon seit einiger Zeit mit einer Technik-Offensive, weil sich fast exemplarisch beobachten lässt, wie sich Felsmassen auf den Absturz vorbereiten. Ein 40 Meter langer und bis zu fünf Meter breiter Riss spaltet den Gipfel in zwei Teile, er wächst pro Monat um rund fünf Millimeter. 260.000 Kubikmeter Fels könnten abrutschen, die Uhr tickt.

Der Riss im Hochvogel-Gipfel wird von Monat zu Monat breiter.
Der Riss im Hochvogel-Gipfel wird von Monat zu Monat breiter. | Bild: dpa

Wie schnell – und wann es auf 12 Uhr zugeht – will Krautblatter mit seinem Team durch das Projekt „AlpSense Rely“ herausfinden. Den Hochvogel überfliegen Drohnen und Motorflugzeuge mit Technik. Der Gipfel wird abgescannt, ausgehorcht und mit Strom geflutet, um dem Wachstum der Spalten auf den Fersen zu bleiben.

Wissenschaftler klettern am Hochvogel, um empfindliche Messinstrumente anzubringen.
Wissenschaftler klettern am Hochvogel, um empfindliche Messinstrumente anzubringen. | Bild: Johannes Leinauer

„Im Abstand von zehn Minuten erfolgt eine Datenübertragung“, sagt der Münchner Berg-Doktor. Ziel ist, die Vorhersage eines Abbruchs so präzise wie möglich zu machen und sich nicht von der Schwerkraft überraschen zu lassen. Die Kontakte zum Bürgermeister der nahen Gemeinde Hinterhornbach, zur Bergrettung und zum Alpenverein sind eng, einer der vier Aufstiege zum Spaltengipfel wurde bereits dicht gemacht.

Auch andere Berge werden untersucht

AlpSense Rely konzentriert sich indes nicht nur auf den Hochvogel. Weitere hochalpine Untersuchungsgebiete liegen am Wetterstein, am Vernagtferner in Tirol, über dem Zillertal und in den Hohen Tauern, wo das Kitzsteinhorn auf Bergsturzrisiko abgetastet wird. An Frühwarnsystemen arbeitet in Deutschland zudem das Geoforschungszentrum in Potsdam (GFZ). Mit Seismometer und Laserscanner werden die Hochwanner-Nordwand bei der Zugspitze und die Felswände im Lauterbrunnental im Berner Oberland belauscht und hochpräzise vermissen.

Starkregen erhöht das Risiko noch

Für Bergwanderer und Kletterer wird es im Hochgebirge gefährlicher, manche Tour wird man von der Agenda streichen müssen. Thomas Bucher, Sprecher des Deutschen Alpenvereins, will die Lage gegenüber dem SÜDKURIER nicht schönreden: „Steinschläge, teils in Verbindung mit Starkregen, werden zu einer immer größeren Gefahr“, sagt er auf Anfrage.

Manche wegen müssten gesperrt, dauerhaft aufgegeben und verlegt werden, so Bucher. „Jenseits der 2000 Meter müssen sich Bergsteiger neu orientieren“, empfiehlt der DAV-Sprecher. In manchen Regionen – etwa am felssturzfreudigen Montblanc – müsse man erwägen, die Klettersaison künftig zu verkürzen.

Hütte wurde geschlossen

Auch Hütten sind von den Folgen des Klimawandels betroffen. Bucher nennt das Hochwildehaus des DAV in den Ötztaler Alpen. Durch Auftauen des Permafrosts sind irreparable Schäden entstanden, das imposante 1938/39 errichtete Gebäude ist seit 2016 vorsorglich dauerhaft geschlossen.

Die seit der Jahrtausendwende häufigeren Bergstürze werfen auch die Frage nach der geologischen Zukunft der Alpen auf. Werden sie durch die Plattentektonik noch wachsen der flachen sie infolge von Abbrüchen und Erosion ab? Ein Team der Universität Bern hat darauf eine Antwort gefunden, indem es in 350 Alpenflüssen den Fußabdruck des chemischen Elements Beryllium unter die Lupe nahm.

Alpen-Zukunft ist unterschiedlich

Das verblüffende Ergebnis: die Alpen zerfallen in zwei Zonen. Im Westen werden sie pro Jahrtausend im Mittel um 80 Zentimeter wachsen, im Osten schrumpfen die Gipfel. Dort droht den Alpen das Schicksal des Bayerischen Walds. Auch hier gab es einmal spitze Zinnen und steile Wände. Letzte Hebung: Vor 60 Millionen Jahren. Es vergeht also noch Zeit, bis der Großglockner zur sanften Hügelkuppe wird.