„Wenn man einen Menschen nur verletzten will, dann schlägt man ihm nicht mit einer Metallstange auf den Kopf und übergießt ihn nicht mit Säure. Die wollten mich kalt machen“, sagt Robin Schellinger im SÜDKURIER-Gespräch. Er berichtet von einem Fall, der im offiziellen Polizeibericht deutlich harmloser klang als er tatsächlich war – und der beunruhigende Einblicke in mögliche Bandenaktivitäten in Konstanz gewährt.

Robin Schellinger vier Tage nach dem Säure-Angriff
Robin Schellinger vier Tage nach dem Säure-Angriff | Bild: Robin Schellinger

Das Gesicht des 21-Jährigen aus Konstanz-Wollmatingen ist von Verätzungen überzogen, sein Hinterkopf und seine Augenbraue von dicken Narben gezeichnet, die von erheblicher Gewalteinwirkung zeugen. Trotz der schweren Entstellungen und Verletzungen kann der angehende Krankenpfleger schon wieder lächeln. Neben ihm sitzt seine 23-jährige Freundin Seraina Oliva. Der Schweizerin aus dem Kanton Zürich steht noch immer die Sorge um ihren Liebsten ins Gesicht geschrieben. Sie kann es kaum fassen, was in dieser folgenschweren Nacht von 16. auf den 17. April mitten in Konstanz geschah.

Gebietsansprüche in Allmannsdorf

Robin Schellinger traf sich an diesem Abend mit drei Freunden aus verschiedenen Konstanzer Stadtteilen zum Musik hören und Alkohol trinken, laut Polizeibericht im Bereich der Mainaustraße, Ecke Staader Straße im Viertel Allmannsdorf. „Wir hatten eine Musikbox mit. Auf einmal haben wir dumpfe Schussgeräusche gehört und einen Jungen mit Kapuze und Luftdruckgewehr hinter uns wahrgenommen, der auf uns schoss, aber niemanden traf“, schildert der 21-Jährige.

Auf dem Vorplatz dieses Supermarktes an der Ecke Mainaustraße und Staader Straße spielte sich die mutmaßliche Säureattacke im Konstanzer ...
Auf dem Vorplatz dieses Supermarktes an der Ecke Mainaustraße und Staader Straße spielte sich die mutmaßliche Säureattacke im Konstanzer Stadtteil Allmannsdorf ab. Das Foto wurde am 20. August 2021 aufgenommen. | Bild: Dose, Dominik

Der junge Angreifer – es soll sich bei ihm um den 16-jährigen Leon F.* handeln – habe die achtköpfige Gruppe gefragt, was sie in „seinem Viertel“ verloren hätten. Er soll dann aber so schnell, wie er gekommen war, wieder verschwunden sein.

Wenig später kam laut Robin Schellinger der 16-Jährige mit zwei jungen Männern – alle mit Kapuzen über dem Kopf – auf seine Freunde zu. Einer der beiden, der 19-jährige Paul G.*, soll mit einer Metallstange gedroht und mit einer wüsten Beschimpfung gefragt haben, wer „das“ gewesen sei. Die Gruppe habe zuerst gar nicht gewusst, was er meinte. „Wir hätten den 16-Jährigen angestresst“, sagt Schellinger. Daraufhin soll Paul G. gesagt haben, er hätte „Gebietsansprüche“ hier im Viertel.

Eine rätselhafte Flüssigkeit

Ein gleichaltriger Kumpel von Robin Schellinger habe Paul G. zu beruhigen versucht. „Mein Freund hat gesagt, ich soll ein bisschen weggehen. Ich wollte einfach, dass es keinen Stress gibt und blieb in der Nähe“, sagt Schellinger. Er sei dann zu den anderen beiden des Trios hin, die abseits an den Einkaufswägen des dortigen Supermarkts standen und mit einem weiteren Freund von Schellinger, Timon M. lautstark diskutiert haben sollen. „Um eine Auseinandersetzung zu vermeiden, bin ich dazwischen gegangen. Ich habe beide angeschaut und gesagt: ‚Hört mal auf zu streiten!‘“

In dem Moment soll der dritte des Trios, der 19-jährige Theodor F.*, ein Pfefferspray gezückt haben und ihn Schellinger und Timon M. ins Gesicht gesprüht haben. „Als mein Gesicht betäubt war und ich mich duckte, schlug er noch mit der Metallstange auf meinen Kopf ein“, schildert der 21-Jährige. Wie er später anhand von Überwachungsbildern durch seinen Anwalt erfuhr, soll ihm dann der 19-jährige Paul G. eine ätzende Flüssigkeit, die aus Rohrreinigermittel hergestellt worden sein dürfte, ins Gesicht gekippt haben. „Beim Weglaufen habe ich nochmal eine auf den Hinterkopf bekommen – von wem und mit welchem Gegenstand weiß ich nicht. Die wollten mich zu Boden bringen und kalt machen“, sagt Schellinger.

Robin Schellinger mit einem von vielen Gesichtsverbänden – noch vor der Operation.
Robin Schellinger mit einem von vielen Gesichtsverbänden – noch vor der Operation. | Bild: Robin Schellinger

Er erinnert sich an viel Blut und betont, dass ihn die drei mutmaßlichen Angreifer bis zur Tat nicht persönlich gekannt hätten und er wiederum nur ihre Namen. „Sie wollten einfach einen aus der Gruppe erwischen“, glaubt Schellingers Freundin Seraina Oliva, die damals nicht vor Ort war.

Das Amtsgericht Konstanz bewertet den geschilderten Tathergang in einem Beschluss, der dem SÜDKURIER vorliegt, als glaubhaft. „Die Glaubhaftmachung ergibt sich aus der auf Antrag beigezogenen Strafakte und aus der Inaugenscheinnahme des Überwachungsvideos vom Tatort. Auf dem Video sind große Teile der Tathandlung zu sehen. Aus der beigezogenen Strafakte ergibt sich, dass Paul G. (Name von der Redaktion geändert, Anm.) die Zusammensetzung der ätzenden Flüssigkeit kannte und an die Polizei mitteilen konnte“, schreibt das Konstanzer Amtsgericht.

„Bis auf die Haut zerfressen“

Laut Polizeibericht hat sich die „Schlägerei, bei der angeblich auch ein Baseballschläger eingesetzt wurde“, gegen 23 Uhr abgespielt, mehrere Notrufe seien eingegangen. „Noch bevor die Streifen die Örtlichkeit erreicht hatten, entfernten sich alle Beteiligten“, teilte das Konstanzer Präsidium am Folgetag mit.

Klinikum Konstanz
Klinikum Konstanz | Bild: Marcel Jud

Robin Schellinger bat seine Freunde nach den Attacken, ihn mit dem Auto ins Krankenhaus zu bringen. „Ich bin in die Notaufnahme gelaufen und habe geschrien: ‚Bitte helft mir!‘“ Zuerst seien seine Augen und sein Gesicht gewaschen worden, dann habe er Schmerzmittel bekommen und die Platzwunden an seinem Kopf seien genäht worden. „Dann kam die Polizei und ich musste meine Kleidung abgeben. Ich hatte vier Lagen an, ein T-Shirt, einen Pulli, eine Strickjacke und eine Weste – trotzdem war alles bis auf die Haut zerfressen, selbst die Jeans – das dürfte mich gerettet haben“, sagt der 21-Jährige.

Der Konstanzer Robin Schellinger mit seiner Schweizer Freundin Seraina Oliva – die Narben im Gesicht des 21-Jährigen sind auch ...
Der Konstanzer Robin Schellinger mit seiner Schweizer Freundin Seraina Oliva – die Narben im Gesicht des 21-Jährigen sind auch vier Monate nach der Säure-Attacke sichtbar. | Bild: René Laglstorfer

Widerstand gegen die Staatsgewalt

Inzwischen hatte die Polizei eine Fahndung eingeleitet und drei Beschuldigte im Alter von 16 bis 19 Jahren stellen können. Ein 16-Jähriger – dabei soll es sich um Leon F. handeln – wollte sich den Angaben zufolge der Kontrolle entziehen und flüchtete. Die Polizei berichtete am Tag danach, dass er nach einer kurzen Verfolgung gefasst und vorläufig festgenommen wurde. Dabei habe er sich gewehrt und die Beamten leicht verletzt. Nach der Festnahme stellte sich laut Polizei heraus, dass er ein Bruder eines der Tatverdächtigen ist.

Dieses Bild postete der 19-jährige Paul G.* in einem sozialen Medium: „SQ“ dürfte für „Squad“, also übersetzt ...
Dieses Bild postete der 19-jährige Paul G.* in einem sozialen Medium: „SQ“ dürfte für „Squad“, also übersetzt Kader, stehen. „64“ nimmt Bezug auf die beiden letzten Ziffern der Konstanzer Postleitzahl 78464, die unter anderem die östlichen Stadtteile Allmannsdorf, Staad und Petershausen-Ost führen. Die zweite Abkürzung „Fick die 7“ soll eine Schmähung der westlichen Stadtteile von Konstanz sein, die die Postleitzahl 78467 tragen, also Wollmatingen, Industriegebiet und Fürstenberg. | Bild: Screenshot
Dieses Bild postete der 19-jährige Paul G.* in einem sozialen Medium: Die Beschimpfung am Baseballschläger mit „67“ soll ...
Dieses Bild postete der 19-jährige Paul G.* in einem sozialen Medium: Die Beschimpfung am Baseballschläger mit „67“ soll eine Schmähung der westlichen Stadtteile von Konstanz sein, die die Postleitzahl 78467 tragen, also Wollmatingen, Industriegebiet und Fürstenberg. | Bild: Screenshot

Hauttransplantation stand im Raum

Zurück im Konstanzer Klinikum – in der Tatnacht des mutmaßlichen Säureangriffs gegen Robin Schellinger. Der 21-Jährige musste zur Computertomografie, um auszuschließen, dass er einen Jochbeinbruch hat. „Alle Ärzte sind zu mir gekommen und wollten die Verätzungen in meinem Gesicht sehen. Die Säure hat auch mein inneres Ohr und mein Auge verletzt. Die Polizei hat Fotos gemacht“, erinnert sich Schellinger. Er ging zuerst nur von einem Pfefferspray-Angriff aus. Doch schnell wurde klar, dass er wegen der massiven Säureverätzungen im Gesicht einen plastischen Chirurgen brauchen wird.

Am 23. April – also eine Woche nach dem Angriff – findet im Freiburger Uniklinikum eine etwa zweieinhalb Stunden dauernde Operation unter Vollnarkose statt, bei der totes Hautgewebe aus dem Gesicht des 21-Jährigen entfernt und mit 36 Klammern und knapp 40 Nähten fixiert wird. „Vor der OP musste ich unterschreiben, dass wenn mein Gesicht nicht von alleine heilt, ich eine Hauttransplantation machen muss“, sagt Schellinger.

Bis zu vier Prozent der Körperoberfläche verätzt

Dieses Dokument und zahlreiche weitere Arztbefunde liegen dem SÜDKURIER vor. In einem Arztbrief der Freiburger Klinik für Plastische Chirurgie heißt es am 26. April als Diagnose: „Verätzung durch Salzsäure (...) drei bis vier Prozent der Körperfläche insgesamt.“ Wegen des untypischen Säuremusters prüfe das Landeskriminalamt laut Schellinger derzeit noch, welche Säuren der Angreifer genau verwendete.

Bild 8: 21-Jähriger mitten in Konstanz mit Säure, Pfefferspray und Metallstange attackiert – was hinter der Tat steckt
Bild: Screenshot
Auszug aus Befund des Freiburger Uniklinikums, die den Einsatz von Salzsäure bei der Attacke annimmt
Auszug aus Befund des Freiburger Uniklinikums, die den Einsatz von Salzsäure bei der Attacke annimmt | Bild: Screenshot

„Mein Neurologe sagt, dass der Angriff ein versuchter Totschlag gewesen sei, weil mir zweimal auf den Kopf geschlagen wurde und Säure im Spiel war. Die Behörden haben die Attacken aber nur als gefährliche Körperverletzung eingestuft. Aber welcher normale Mensch geht mit Säure aus dem Haus?“, fragt Robin Schellinger. Er ist enttäuscht darüber, dass die drei mutmaßlichen Angreifer seit der Tat auf freiem Fuß sind. „In der Schweiz würden sie längst in U-Haft sitzen, warum in Deutschland nicht?“, fragt Schellingers Freundin Seraina Oliva, die im Kanton Zürich zuhause ist.

Die Staatsanwaltschaft Konstanz kann sich vorerst, bis alle Beteiligten postalisch verständigt sind, nicht zu dem Verfahren äußern. Die Ermittlungen gegen die drei Beschuldigten im Alter von 16 bis 19 Jahren sind jedoch abgeschlossen. Aller Voraussicht nach dürfte es zu Anklagen kommen.

Ein Beschuldigter ist derzeit in Behandlung

Der SÜDKURIER hat auch versucht, mit den drei Tatverdächtigen Paul G., Leon und Theodor F. beziehungsweise mit ihren Anwälten Kontakt aufzunehmen. Paul G. befindet sich laut Informationen dieser Zeitung in psychiatrischer Betreuung. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter bestätigen im Telefongespräch eine Auseinandersetzung. Sie wollen sich aber vorerst ohne Rücksprache mit ihrem Anwalt, der in Urlaub sei, nicht öffentlich zu den Vorwürfen äußern. Der Anwalt von Leon und Theodor F. wollte in dem Fall keine Stellungnahme abgeben. Für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.

*Namen der drei Beschuldigten von der Redaktion geändert.