Tübingen – Der Zug aus Wiesbaden nach Tübingen hat Verspätung. Knapp eine halbe Stunde später als geplant steuert Boris Palmer die Stadt an, in der er 2006 zum Oberbürgermeister (OB) gewählt wurde. Heute kommt der überzeugte Zugfahrer Palmer aus dem Fluchen nicht heraus über die Unzuverlässigkeit der Bahn, schließlich ist das Leben des 46-Jährigen eng getaktet. „Das ist ein Desaster“, murmelt er vor sich hin.

In den vergangenen zwölf Jahren hat Palmer, der einst als das größte Talent der Südwest-Grünen galt, die beschauliche Universitätsstadt mit ihren heute 90 000 Einwohnern auf Vordermann gebracht. Doch das ist nur die eine Seite des Grünen-Politikers. Denn Palmer hat es auch geschafft, vor allem mit seinen Äußerungen zur Flüchtlingspolitik regelmäßig für bundesweites Aufsehen zu sorgen – zuletzt nach der Vergewaltigung einer 18-Jährigen in Freiburg und kurz darauf im Interview mit dem SÜDKURIER. Postet Palmer etwas auf Facebook, läuft einigen Grünen der Angstschweiß über die Stirn.

Tübingen wächst, aber nicht auf Kosten der Natur

Gaststätte im Tübinger Hauptbahnhof, Mittagszeit. Palmer bestellt sich einen Hackfleisch-Blätterteig-Strudel. Sein zentrales Thema hier in Tübingen? „Für mich ist entscheidend, dass Tübingen blaues Wachstum realisiert“, lautet seine Antwort. Übersetzt heißt das: Tübingen wächst, aber nicht auf Kosten der Natur. Und in der Tat, die Statistik spricht für seine Politik: Seit seinem Amtsantritt ist die Zahl der Arbeitsplätze um 10 000 gestiegen, also um 25 Prozent. Im gleichen Zeitraum ist der CO2-Ausstoß pro Kopf in Tübingen um 32 Prozent zurückgegangen. Und das, obwohl die Stadt heute zehn Prozent mehr Einwohner hat als 2006.

Bäckermeister lobt seine Wirtschaftspolitik

Dass der OB in der Stadt eine gute Politik macht, bestätigt sogar die politische Konkurrenz. „Seine Wirtschaftspolitik ist gut“, sagt Rudi Hurlebaus, ein bedächtiger Bäckermeister, der seit 2015 die CDU-Fraktion im Tübinger Gemeinderat anführt. Auch Palmers Initiativen beim Wohnungsbau seien sinnvoll. Der OB sei ein regelrechtes Arbeitstier. Wäre da nicht die Sache mit Facebook. „Vor allem mit seinen Forderungen in der Flüchtlingspolitik stellt er die Stadt nach außen negativ dar“, findet Hurlebaus. Der örtliche Vorstand des Handel- und Gewerbevereins, Jörg Romanowski, äußert sich ähnlich. „Wir sind sehr zufrieden mit Herrn Palmer. Für den Handel ist er ein guter OB“, sagt Romanowski. Wäre er etwas weniger auf Facebook aktiv, „würde ihm das sicher nicht schaden“.

Palmer, Facebook und die Flüchtlinge. Das ist die andere Seite des cleveren Grünen-Politikers. Palmer ist auf Facebook von rund 40 000 Usern abonniert. Zum Vergleich: Die örtliche Tageszeitung, das „Schwäbische Tagblatt“, kommt nicht einmal ganz auf die Hälfte. Täglich postet Palmer unter anderem, was er von aktuellen Entwicklungen in der Asylpolitik hält. Er ist gern gesehener Gast bei Politik-Talkshows wie „Hart aber fair“ oder stellt sich den Fragen von ZDF-Moderator Markus Lanz. Seine mediale Omnipräsenz hat ihm den Titel „Deutschlands bekanntester OB“ eingebracht – und das, obwohl Tübingen keine Großstadt ist. Doch Palmer liefert einen kontroversen Vorstoß nach dem anderen zur Asylpolitik. Seine jüngste Idee lautet, man solle kriminelle Flüchtlinge in eigenen Unterkünften unterbringen, auf dem Land und gut bewacht.

Palmer bezieht Position gegen seine Partei

Vielen linken Grünen ist Palmer ein rotes Tuch – und das ist noch zurückhaltend formuliert. Vor allem seit der Flüchtlingskrise 2015 bezieht er immer wieder Gegenpositionen zur Mehrheit seiner eigenen Partei. Für Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim geht Palmer jedenfalls geschickt vor. „Er bezieht Positionen, die denen seiner Partei widersprechen. Solche Kontroversen haben Nachrichtenwert“, sagt Brettschneider.

Palmers harte Haltung gegenüber kriminellen Flüchtlingen bringt die grüne Basis regelmäßig gegen ihn auf. Der Tübinger Kreisverband besteht eher aus linken Grünen. Dort will sich auf Anfrage dieser Zeitung niemand zu Palmer äußern. Die Partei schweigt zu einem Mitglied, das seit zwölf Jahren OB ist? Dies zeigt, dass in Tübingen die Uhren anders ticken. Auch der Tübinger Bundestagsabgeordnete Chris Kühn und der dortige Landtagsabgeordnete Daniel Lede Abal (beide Grüne) lehnen Palmer ab.

Erst vor wenigen Wochen eskalierte die Situation mal wieder. Auf dem Weg zu einer Veranstaltung in Ulm fühlte sich Palmer vom Verhalten eines Radfahrers belästigt. Er vermutete hier, dass sich ein Flüchtling daneben benimmt – und postete dies auf Facebook. Das Thema sorgte wieder richtig für Aufregung. Kühn und Lede Abal unterstellten Palmer Rassismus. Der Landesvorstand sah sich genötigt klarzustellen, dass Palmer – wie so oft – nicht für die Grünen spreche.

Auf Facebook probiert er vieles aus

Palmer, der Social-Media-König? „Auf Facebook erlebe ich mich als Dilettant. Ich probiere nur vieles aus“, gibt er sich bescheiden. Er gehe bei Facebook bewusst dahin, „wo die Rechtspopulisten in der Überzahl sind“. Man dürfe der AfD dieses Feld nicht überlassen.

Palmer plant nach 2006 und 2014 die dritte Kandidatur. „Aus heutiger Sicht werde ich 2022 bei der OB-Wahl wieder antreten“, sagt er. Zudem habe er viele Projekte angestoßen, deren Realisierung weit über 2022 hinaus dauern würden. Dazu gehören Pläne für eine Stadtbahn, die die ganze Region verbindet. Wird Palmer noch mal gewählt, könnte er sich das bewahren, was ihm am Wichtigsten ist. „Meine Stärke ist, dass ich unabhängig bin“, sagt er.