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Auf dem Konstanzer Benediktinerplatz geht es an diesem Freitag so ruhig zu wie an jedem anderen Tag auch. Ein einzelner Kameramann, der sich mit seinem Stativ vor dem Gebäude des Polizeipräsidiums positioniert hat, deutet darauf hin, dass der Eindruck täuscht. Immer mal wieder tritt Pressesprecher Jens Purath vor die Tür, um ins Mikro zu sprechen.

Doch die Nachrichten, die er zu überbringen hat, versprechen keine Erleichterung: Noch immer ist der Supermarkterpresser nicht gefasst. Noch immer müssen Supermarktkunden mit der Gefahr leben, dass die Lebensmittel, die sie einkaufen, mit Gift belastet sind. Die Polizei jedenfalls fürchtet weitere Taten. „Wir können nicht ausschließen, dass der Erpresser über das Wochenende erneut vergiftete Lebensmittel ausbringt“, sagt Purath. Und das ausgerechnet vor dem langen Feiertagswochenende, vor dem viele Menschen noch ihre Kühlschränke füllen.

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Die Bevölkerung reagiert

Bei der Polizei stehen derweil die Telefone nicht still. Polizeihauptkommissar Markus Sauter spricht von rund 1000 Anrufern, die sich bis gestern Abend bei der Hotline der Polizei gemeldet haben. Hinzu kommen rund 200 E-Mails. „Darunter sind auch viele besorgte Menschen, die wissen wollen, wie sie sich verhalten sollen“, erzählt er. Die 220 Ermittler der Sonderkommission „Apfel“ würden die Hinweise „akribisch“ auswerten und zunächst bestimmen, „welche davon Priorität haben und welche in die Warteschleife kommen“. Rund 200 konkrete Hinweise zur Person gab es bis gestern Mittag. „Mal sind es Menschen, die sich sicher sind, den Verdächtigen irgendwo gesehen zu haben“, erzählt der Beamte.

Vor dem Polizeipräsidium in Konstanz hatte sich gestern ein Kamerateam positioniert. Der Erpressungsfall hat bundesweite Aufmerksamkeit. ...
Vor dem Polizeipräsidium in Konstanz hatte sich gestern ein Kamerateam positioniert. Der Erpressungsfall hat bundesweite Aufmerksamkeit. Bild: Hanser | Bild: Hanser

„Mal denken die Anrufer, dass jemand existiert, der so ähnlich aussieht.“ Die Anrufer kommen aus dem gesamten Bundesgebiet, „es ist also keinesfalls so, dass wir nur Hinweise aus dem Bodenseegebiet erhalten“. Das Callcenter des Polizeipräsidiums Konstanz mit einem Dutzend Mitarbeitern bleibt daher rund um die Uhr besetzt. Am Donnerstag hatte die Polizei Fahndungsbilder eines dringend tatverdächtigen Mannes in einem Supermarkt veröffentlicht. „Bislang zeichnet sich jedoch noch keine heiße Spur ab, weshalb die Ermittlungsbehörden nach wie vor auf die Mithilfe der Bevölkerung bei der Fahndung nach dem mutmaßlichen Giftausbringer setzen“, erklärten Oberstaatsanwalt Alexander Boger und Polizeivizepräsident Uwe Stürmer. Bislang wisse man nicht mal, ob es sich um einen oder mehrere Täter handele. Die am meisten Erfolg versprechenden Spuren führen wohl nach Vorarlberg.

Der Tatverdächtige soll mit der erneuten Platzierung von vergifteten Lebensmitteln in Supermärkten und Drogerien gedroht haben, um eine zweistellige Millionensumme zu erpressen. Mitte September waren fünf vergiftete Gläschen mit Babynahrung in Friedrichshafen entdeckt worden. Das Gift Ethylenglycol ist in die Babynahrung eingerührt worden, hieß es von der Polizei. Beim Verzehr drohten „sehr ernsthafte Gesundheitsgefahren bis hin zum Tod“. Die Drohung des unbekannten Erpressers umfasse aber nicht nur Babynahrung. Der Erpresser habe gedroht, 20 verschiedene Lebensmittel zu vergiften. Generell, so raten die Lebensmittelexperten, sollten besorgte Bürger nicht in Panik verfallen, sondern achtsam sein, bei Lebensmitteln auf unversehrte Verpackungen achten und ihren Sinnen vertrauen.

„Ist die Verpackung unversehrt, nicht geöffnet, weist keine Einstiche oder Ähnliches auf? Gibt es ein hörbares Klacken beim Öffnen von Vakuumverschlüssen oder fehlt es? Ist Farbe, Geruch, Konsistenz des Lebensmittels ungewöhnlich?“, sagt Petra Mock, zuständige Ministerialrätin im Verbraucherschutzministerium in Stuttgart. Im Verdachtsfall sollte das Lebensmittel nicht konsumiert, sondern unmittelbar Polizei oder das Ladenpersonal, bei dem das Lebensmittel gekauft wurde, informiert und die Verpackung zurückgegeben werden – eventuell auch, um Spuren zu sichern.

Vorwürfe werden laut, die Polizei habe sich zu spät an die Öffentlichkeit gewandt – immerhin läuft die Erpressung bereits seit dem 16. September um 19 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt ging die Mail an die Händler, an die Polizei und den Verbraucherschutz. Sauter weist den Vorwurf zurück: „Der Täter hat bisher eine hohe Planungstreue gezeigt. Die fünf kontaminierten Gläschen standen exakt dort, wo er sie angekündigt hat. Wir gingen und gehen also davon aus, dass keine Gefahr für die Bevölkerung bestand.“ Wieso dann jetzt der Gang in die Öffentlichkeit? „Wir haben den Erpresser einem hohen Fahndungsdruck ausgesetzt. Das Risiko, jetzt Gift auszusetzen, ist sehr, sehr hoch für ihn.“ Ein Gremium von Experten, das sich aus Personen des Landeskriminalamtes, des Bundeskriminalamtes, des Ministeriums für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz, der Staatsanwaltschaft, der Polizei sowie Psychologen und Profilern zusammensetzt, entschied sich für den späten Gang in die Öffentlichkeit. „Das war keine einsame Entscheidung von uns hier“, bestätigt Markus Sauter.

In der Mail des Erpressers vom 16. September wurde ein exaktes Szenario des Vorgangs dargestellt. „Dieses Szenario läuft noch“, so Sauter. „Zu den Details können wir nichts Näheres sagen.“ Angaben zu einer geplanten Geldübergabe macht die Polizei aus taktischen Gründen nicht. Auch zur Frage, ob jemand in Erwägung ziehe, die geforderte Millionensumme zu bezahlen, machte die Polizei keine Angaben. Nur soviel: Der Mann habe Angaben zur Geldübergabe gemacht, der Ort liege außerhalb der Bodenseeregion. Details wollte die Polizei aber nicht nennen. Im Moment haben die Behörden zum Erpresser keinen Kontakt, so der Sprecher.

Zwar ermittelt die Polizei in ganz Deutschland und sogar über die Landesgrenzen hinaus, doch das bisherige Vorgehen deutet darauf hin, dass der Täter vor allem Friedrichshafen im Blick hatte – und womöglich sogar über Ortskenntnisse verfügte. Entsprechend nervös ist auch die Stimmung unter den Händlern, das wird bei jedem Gespräch deutlich. „Ich sage nichts, kein Sterbenswörtchen!“ Der Geschäftsführer eines Friedrichshafener Supermarktes bittet am Telefon um Verständnis. Er dürfe nicht mit der Presse sprechen, wünscht die Polizei. Nach SÜDKURIER-Informationen ist seine Filiale im Stadtzentrum eines der fünf Geschäfte, in denen ein Erpresser am 16. September ein mit Gift versetztes Babygläschen in den Regalen deponiert hatte.

Kontakt zur Polizei

Anders als gestern berichtet, sollen die Babygläschen nicht nur in einem Supermarkt deponiert worden sein, sondern in fünf verschiedenen Märkten unterschiedlicher Ketten – alle in Friedrichshafen. Alle fünf Gläschen hat die Polizei unmittelbar nach dem Eingang des Erpresserschreibens am Samstag vor zwei Wochen kurz vor Ladenschluss gefunden. Auf Anfrage dieser Zeitung hat nur ein Marktleiter bestätigt, dass in den Auslagen seines Supermarktes ein manipuliertes Glas dabei war. Mitten im Zentrum der Stadt. Aldi-Süd bestätigt auf Anfrage lediglich, „dass eine bundesweite Erpressung verschiedener Handelskonzerne vorliegt. Der Täter hat gedroht, Produkte mit einer giftigen Substanz zu kontaminieren“. Und: „Seit Bekanntwerden stehen wir in engem Kontakt mit der zuständigen Polizei.“

Der Geschäftsführer einer anderen Supermarktkette erklärt, keine Ahnung davon zu haben, ob in seiner Filiale in Friedrichshafen vor knapp zwei Wochen eines der vergifteten Gläschen sichergestellt wurde oder nicht. „Ich habe keine Rückmeldung von der Polizei bekommen.“ Er wisse nur, dass nach dem Eingang des Erpresserschreibens in allen großen Friedrichshafener Geschäften, die Babynahrung im Sortiment haben, sämtliche Gläschen teils noch am Samstagabend, teils am Sonntag in den Regalen ausgeräumt wurden – nicht nur in den fünf Läden, die der Erpresser benannt hatte. „Da kam alles raus, quer durch alle Marken. Die wollten ganz bestimmt auf Nummer sicher gehen“, ist er überzeugt.

Wie ein Mensch überhaupt auf die Idee kommen könne, ausgerechnet Babygläschen mit Gift zu versetzen, macht ihn schlicht fassungslos. „Wie viel kriminelle Energie muss man haben, um so etwas zu tun?“, fragt er. Ihn belaste das sehr, zumal die Sache ja noch nicht ausgestanden sei.

Friedrichshafens Oberbürgermeister Andreas Brand sagt: „Ich kann nur alle dazu aufrufen, besonnen zu bleiben und jetzt besonders aufmerksam und vorsichtig zu sein. Bei einem Verdacht sollte jeder von uns sofort die Polizei informieren und sie bei den Ermittlungen unterstützen.“ Tatsächlich bewahrten die Kunden in Friedrichshafen Ruhe, am Freitag zur Mittagszeit waren die Läden so gut gefüllt wie sonst. Auch auf dem Adenauerplatz, der jeden Freitagvormittag zum Marktplatz wird, herrscht geschäftiges Treiben.

Nina springt an

Im Zusammenhang mit dem Kriminalfall aus Friedrichshafen und der Erpressung mehrerer Lebensmittel- und Drogeriemarktketten ist am Donnerstag bundesweit die Handy-Warn-App „Nina“ angesprungen. Die baden-württembergische Landesregierung gab zudem auf Twitter eine Warnung heraus. Die „Nina“-Nutzer wurden gegen Mittag aufgerufen, sich über alle verfügbaren Medien zu informieren und verdächtige Produkte am besten gleich im Laden zu melden. Die Warn-App Nina wurde vom BBK entwickelt. Der Name steht für „Notfall-Informations- und Nachrichten-App“. Die App ist ein Ausgabekanal des satellitengestützten Modularen Warnsystems, über das zum Beispiel auch Radiosender offizielle Warnmeldungen erhalten. Der Bund, der nur bei großen nationalen Gefahrenlagen warnt, hat das System den Ländern für ihre Warnaufgaben zur Verfügung gestellt. (dpa)