Am Ende der halbstündigen Pressekonferenz standen der leitende Oberstaatsanwalt und der Polizeivizepräsident am Tisch mit den Mikrofonen und schüttelten sich eine gute Minute sichtlich befreit die Hände. „Nach so einer Sache treffen wir uns normalerweise noch auf ein Bier“, sagte Uwe Stürmer vom Polizeipräsidium Konstanz. Alexander Boger von der Staatsanwaltschaft Ravensburg nickte zustimmend. Doch an diesem Samstagnachmittag wollten beide nur noch eins: ins Bett gehen. Nur noch schlafen gehen, nachdem das Duo die zwei Nächte zuvor durchgearbeitet hatte, bis der mutmaßliche Lebensmittelerpresser der Polizei ins Netz ging.

Der Zugriff auf den 53-jährigen Mann geschah am Freitag, 16 Uhr, in Ofterdingen im Landkreis Tübingen. Uwe Stürmer spricht von einem überraschenden und zielgerichteten Handeln. „So etwas kündigen wir ja nie großartig an“, sagt er. „Das muss sehr schnell gehen, da gehen wir dann schon mit dem richtigen Besteck ran.“ Der Mann habe sich nicht gewehrt, er habe keine Fragen gestellt, warum er festgenommen werde. „Das ist sehr ungewöhnlich“, erklärt Uwe Stürmer. In Ofterdingen ist der mutmaßliche Erpresser gemeldet. In seiner Wohnung fanden die Beamten eine Flasche mit Ethylenglycol, die zur Hälfte geleert war. „Die fehlende Menge ist mit hoher Wahrscheinlichkeit exakt die Menge, die in den Babygläschen in Friedrichshafen gefunden wurde“, so der Polizeivizepräsident.

Drohung per E-Mail

Der Erpresser hatte bereits am 16. September gedroht, 20 vergiftete Lebensmittel in Umlauf zu bringen, und per E-Mail einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag gefordert. In dieser Mail sprach er von fünf Gläschen mit vergifteter Babynahrung in fünf Supermärkten in Friedrichshafen. Da diese Gläschen exakt in den beschriebenen Stellen gefunden wurden, ging die Polizei von einer hohen Planungstreue des Mannes aus. Nachdem zwölf Tage lang die verdeckten Ermittlungen keinen Erfolg brachten, gingen die Ermittler am Donnerstag an die Öffentlichkeit.

Zeugenaussagen führten die Beamten zu einem nahe der Wohnung liegenden Altkleidercontainer, wo sie Schuhe und Umhängetasche fanden, die identisch sind mit denen, die der Mann auf dem Überwachungsvideo des Supermarktes trägt. Darüber hinaus steckte in dem Container ein Laptop. In der Wohnung des Mannes fanden sie ein Ladekabel ohne Laptop. Die Auswertung dieses Gerätes ist Teil der Ermittlungen der kommenden Wochen. Am frühen Samstagabend dann legte der mutmaßliche Erpresser gegenüber dem Haftrichter ein Geständnis ab – die Indizienliste war offenbar zu groß, um die Tat zu leugnen. Der Haftrichter erließ dem Haftantrag folgend einen Haftbefehl wegen schwerer räuberischer Erpressung. Der Tatverdächtige sitzt seither in Untersuchungshaft, nach SÜDKURIER-Informationen in Ravensburg.

Medienrummel im Polizeipräsidium Konstanz. Kamerateams aus ganz Deutschland und anderen europäischen Ländern kamen an den See. Bild: ...
Medienrummel im Polizeipräsidium Konstanz. Kamerateams aus ganz Deutschland und anderen europäischen Ländern kamen an den See. Bild: Oliver Hanser

Ob sich der Verdacht des versuchten Totschlags ergibt, werden die weiteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zeigen. Dem Mann drohen zwischen fünf Jahren Haft bis lebenslänglich. Der Verdächtige wurde in Gegenwart eines Anwalts vernommen. Er gab gegenüber der Polizei an, keine weiteren vergifteten Lebensmittel mehr verteilt zu haben. Polizeisprecher Markus Sauter: „Ob die Gefahr tatsächlich gebannt ist, lässt sich aber nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Wir gehen aufgrund der jetzigen Erkenntnisse aber nicht davon aus, dass weitere vergiftete Nahrungsmittel von dem Mann in Umlauf gebracht wurden.“

Genau hier lag eine der größten Sorgen der ermittelnden Behörden, wie Uwe Stürmer erklärt: „Wir wussten nicht, was der Mann nach unserem Gang in die Öffentlichkeit am Donnerstag und bis zu seiner Festnahme am Freitag gemacht hat und wo er sich aufgehalten hat.“ Daher gab es auch erst nach dieser Aussage Entwarnung für die Bevölkerung. Die zweite Welle der Giftauslegung war für das vergangene Wochenende angekündigt. „Wir wussten, dass es sehr, sehr schwierig für ihn werden würde, erneut tätig zu werden“, berichtet Uwe Stürmer. „Denn der Fahndungsdruck war durch die Öffentlichkeit sehr hoch. Jeder wusste aufgrund der Bilder, wie er aussah.“ Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Polizei sprechen von einem großen Erfolg ihrer Verhandlungsstrategie. „Es ist genau das passiert, was wir uns erwünscht hatten“, so Markus Sauter. Rund 2000 Anrufe und Mails erhielt die Sonderkommission „Apfel“. 300 konkreten, wertvollen Hinweisen gingen die Beamten nach. Schließlich gab es eine Vielzahl von Anrufern, die auf den später Festgenommenen hinwiesen. Schnell wussten die Ermittler, wer die Person war und wo sie sich aufhält. „Wir haben ihn dann lokalisiert und observiert und dann schließlich zugegriffen.“

Eine gescheiterte Existenz

Der mutmaßliche Erpresser wohnte vor einigen Jahren in Konstanz. Was er hier machte, weiß die Polizei noch nicht. „Es ist aber so, dass er sich die Bodenseeregion fürs Auslegen der vergifteten Lebensmittel gezielt ausgesucht hat“, so Uwe Stürmer. Der 53-Jährige zeigte laut Polizeiaussagen in der Vergangenheit psychische Auffälligkeiten. Psychologen bezeichnen damit die krankhafte Beeinträchtigung der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens, Verhaltens oder der sozialen Beziehungen. „Er war Einzelgänger und nicht das typische Mitglied eines Kegelvereins oder der Skatbrüder“, so Stürmer. Mehrmals habe er selbstständige Geschäfte aufgebaut, die mehr schlecht als recht liefen und in der Pleite endeten. „Man kann von einer gescheiterten Existenz sprechen.“ Zuletzt lebte er von Sozialhilfe. Die Staatsanwaltschaft Ravensburg unter der Führung von Oberstaatsanwalt Alexander Boger untersucht nun, ob der mutmaßliche Erpresser den Tod von Menschen billigend in Kauf genommen hat oder ob er damit rechnete, dass die Warnung vor den vergifteten Lebensmitteln greifen würde. „Wir müssen prüfen, ob psychische Auffälligkeiten in dem Ausmaß vorhanden sind, dass sie zu einer Schuldunfähigkeit führen könnten“, so Alexander Boger.


"Wir haben nicht geschlafen und Tag und Nacht ermittelt"

Uwe Stürmer, Vizepräsident im Polizeipräsidium Konstanz, spricht im Interview mit dieser Zeitung über die Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Supermarkt-Erpresser und die Gefährdung der Bevölkerung.

Herr Stürmer, Sie wirken befreit. Wie groß ist Erleichterung, dass Sie den Mann erwischt haben?

Die ganze Sonderkommission hat super Arbeit geleistet. Sie können uns als Polizei gratulieren. Sie sehen mich erleichtert, das war ich vor zwei Tagen, als wir an die Öffentlichkeit gegangen sind, bestimmt noch nicht. Es freut uns sehr und wir sind sehr froh, dass wir den dringend Tatverdächtigen Mann in Haft nehmen konnten. Jetzt geht es darum, die Sache beweiskräftig aufzuarbeiten. Die 51 Stunden zwischen der ersten Pressekonferenz am Donnerstag und der Festnahme am Freitag waren sehr hart. Wir haben nicht geschlafen und Tag und Nacht ermittelt.

Was ist passiert seit Donnerstag?

Es liefen 1500 Anrufe und 400 Mails, also insgesamt rund 2000 Rückmeldungen. Es gab auffallend viele Menschen, die sich ganz sicher waren, den Mann zu kennen. Da gab es viele Übereinstimmungen, die schließlich dazu geführt haben, dass wir den Mann ermitteln konnten. Diesen Spuren sind wir vorranging nachgegangen und diese Spuren haben dann nach Ofterdingen geführt. Wir möchten uns bei der Öffentlichkeit und auch bei den Medien bedanken. Die Zusammenarbeit war richtig gut und letztlich auch erfolgreich.

Sie haben in einem Altkleidercontainer seine Schuhe, seine Umhängetasche sowie ein Laptop gefunden. Wie kamen Sie darauf, in dem Container zu suchen?

Das ist schlicht und ergreifend ein Ermittlungserfolg. Wir sind mit einem Bild des Mannes durch die Straßen gelaufen und ein Zeuge hat erzählt, dass er diesen Mann mit einer Tasche gesehen hat, der in diese Richtung gelaufen ist. Dann sind wir die Straßen abgegangen, dort stand ein Container und den haben wir aufmachen lassen. Und das war Bingo. Manchmal ist es ganz einfach. Die Kombination Schuhe und Umhängetasche sowie das Laptop im Altkleidercontainer spricht schon eine eigene Sprache.

Wieso hat er in Friedrichshafen die vergifteten Gläschen verteilt?

Definitiv können wir das noch nicht sagen. Aber hat vor langer Zeit in Konstanz gewohnt. Wo er hier gewohnt hat und was er hier gemacht hat, werden die weiteren Ermittlungen. Bisher haben wir uns nur darauf konzentriert, was er aktuell macht und gemacht hat. Über seine Wohnsitze wussten wir, dass er einen Bezug an den Bodensee hat. Er soll in der Vergangenheit psychische Auffälligkeiten gezeigt haben und nicht in sein soziales Umfeld eingebunden gewesen sein. Er war offensichtlich ein Einzelgänger und man kann von einer gescheiterten Existenz sprechen. Er hat mehrfach selbstständige Geschäfte aufgebaut, die mehr schlecht als recht liefen und in der Pleite endeten.

Wie sah die Gefährdung der Bevölkerung aus? Sie mussten ja damit rechnen, dass er erneut Gift auslegt.

Zunächst einmal waren wir uns sicher, dass nach der ersten Welle in Friedrichshafen die Gefahr zunächst gebannt war. Der Täter legte ein klares Szenario vor. Es war uns aber klar, dass es eine zweite Welle der Giftauslegung geben würde. Und dieser zweiten Welle sind wir am Donnerstag zuvorgekommen mit dem Gang an die Öffentlichkeit,. Wir wollten nicht warten, bis er die zweite Welle durchführt, wir wollten den Druck auf ihn erhöhen. Das war genau unsere strategische Absicht – und die ist voll aufgegangen. Nicht zu warten, bis etwas passiert, sondern mit der Öffentlichfahndung ihm zuvorkommen. Vor der Pressekonferenz hatte er keinen Anlass, erneut Gift auszulegen. Nach der Pressekonferenz hätte er es machen können – aber nur unter sehr erschwerten Bedingungen, weil jetzt jeder sein Gesicht kannte, da es in allen Medien lief. Da war aber ein Fenster von fast zwei Tagen, in denen wir nicht wussten, was er machen würde. Daher konnten wir am Samstag nicht sagen, dass die Gefahr vorüber sei.