Es ist ein Albtraum: Mehrere deutsche Unternehmen der Lebensmittelbranche erhalten eine Mail, in der angekündigt wird, Produkte in ihren Märkten zu vergiften, wenn nicht ein zweistelliger Millionenbetrag bezahlt wird. Dazu eine Auflistung, wo sich mit Gift kontaminierte Produkte befinden. Der Albtraum ist bittere Realität – und zwar in der Bodenseeregion. In Friedrichshafen hat ein bislang Unbekannter Gläschen mit Babynahrung vergiftet, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Die Polizei will nicht sagen, um welchen Supermarkt es sich handelt. Laut verlässlichen SÜDKURIER-Informationen handelt es sich um einen Edeka-Markt in Friedrichshafen. Gedroht wird, auch in anderen Supermärkten und Drogerieketten zuzuschlagen. Die betroffenen Geschäfte waren in einer Erpresser-E-Mail benannt worden. Es sei gedroht worden, 20 verschiedene Lebensmittel zu vergiften. Der Fall erhält damit eine nationale Bedeutung. „Wir nehmen diesen Erpressungsfall sehr, sehr ernst“, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Alexander Boger gestern in Konstanz bei einer Pressekonferenz.

Am Samstag, den 16. September, ging die Mail an die Unternehmer und an die Polizei. „Dabei handelt es sich um nationale und internationale Lebensmittelkonzerne und Drogeriemärkte“, erklärt Boger. Die Behörden erhielten eine Mitteilung, dass in einem Friedrichshafener Lebensmittelladen vor Ladenschluss fünf vergiftete Babygläschen deponiert worden seien. „Diese Lebensmittel konnten sichergestellt werden“, sagt Boger. Die Polizei räumte die Regale und fand in der Tat in fünf Gläschen Ethylenglycol. Es drohten „sehr ernsthafte Gesundheitsgefahren bis hin zum Tod“, sagt ein Polizeisprecher.

Pressekonferenz in Konstanz mit ernsten Mienen (von links): Markus Sauter (Polizei Konstanz), Petra Mock (Verbraucherministerium ...
Pressekonferenz in Konstanz mit ernsten Mienen (von links): Markus Sauter (Polizei Konstanz), Petra Mock (Verbraucherministerium Baden-Württemberg), Uwe Stürmer (Polizeivizepräsident), Alexander Boger (Leitender Oberstaatsanwalt) und Karl-Josef Diehl (Oberstaatsanwalt). | Bild: Oliver Hanser

Die Fotos der Überwachungskameras aus dem betroffenen Friedrichshafener Supermarkt zeigen einen Tatverdächtigen, dessen Alter die Polizei auf ungefähr 50 Jahre schätzt. Er trägt eine schwarze Jacke und eine helle Hose, wirkt auf den ersten Blick unscheinbar. Das einzig Auffällige an ihm sind eine weiße Mütze und schwarze Turnschuhe mit einem deutlichen weißen Rand. Zu erkennen ist ein Mann, der mit einem Einkaufskorb Waren aus einem Regal holt und kurz darauf nach einem Rundgang durch das Geschäft Waren wieder ins Regal stellt. „Diese Person ist im höchsten Maße verdächtig, an der Tat beteiligt zu sein.“ Die Polizei spricht von einem „verlässlichen Erpresser“, da bis dato die Angaben mit den Taten übereinstimmten. Den Ermittlern zufolge wurde ein zweistelliger Millionenbetrag gefordert. Laut „Bild“-Zeitung handelt es sich um zehn Millionen Euro.

 

Erpresser-Masche: Vergiftete Lebensmittel als Druckmittel


Immer wieder drohen Erpresser damit, Lebensmittel zu vergiften. Supermarktketten wie Lidl, Aldi und Rewe sind betroffen, aber auch Hersteller geraten ins Visier von Verbrechern. Einige Fälle der vergangenen Jahre:
  • Juli 2017: Gummibärchen und Brotaufstrich vergiftet
    Das Landgericht Bonn verurteilt einen Rentner zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten. Der 74-Jährige hatte Haribo mit der Vergiftung von Gummibärchen gedroht. Außerdem erpresste er die Unternehmen Lidl und Kaufland. Er forderte eine Million Euro in der Internet-Währung Bitcoin.

    Zudem begann in Dortmund der Prozess gegen zwei 45 und 46 Jahre alten Männer. Sie sollen mit Gift versetzte Gläser mit Brotaufstrich in mehreren Lidl-Filialen deponiert haben. Sie forderten fünf Millionen Euro in Bitcoins vom Unternehmen.
  • März 2017: Marzipanherzen mit Insektiziden versetzt
    Ein 38-Jähriger wird vom Landgericht Kiel wegen versuchter räuberischer Erpressung zu einer Haftstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Er hatte auf Schulhöfen mit Insektiziden vergiftete Marzipanherzen ausgelegt. Damit wollte er von der Handelskette Coop drei Millionen Euro erpressen, zahlbar in der digitalen Währung Bitcoins.
  • Oktober 2015: Versuchte Rewe-Erpressung
    Ein 38-jähriger Mann wird vom Landgericht Köln wegen versuchter Erpressung der Supermarktkette Rewe zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Er hatte 15 Millionen Euro gefordert und dem Konzern gedroht, Lebensmittel zu vergiften.
  • Mai 2013: Aldi-Süd per E-Mail erpresst
    Ein 61-Jähriger wird wegen versuchter Erpressung des Lebensmitteldiscounters Aldi-Süd vom Landgericht Duisburg zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Er hatte per E-Mail 15 Millionen Euro gefordert und mit vergifteten Lebensmitteln gedroht.
  • Juli 2010: Marmeladen-Produzent Zentis erpresst
    Das Landgericht Aachen verurteilt einen Erpresser des Marmeladen-Produzenten Zentis zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft. Er hatte damit gedroht, vergiftete Marmelade in den Handel zu bringen, und 500 000 Euro verlangt.
  • Januar 2010: Vergiftete Ferrero-Produkte
    Wegen versuchter Erpressung des Süßigkeitenherstellers Ferrero wird ein Kneipenwirt aus dem Sauerland zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Der Mann hatte 2008 ein Päckchen mit vergifteten Pralinen und Nougatcreme an die Firma geschickt. Er verlangte 950 000 Euro.
dpa
 

Uwe Stürmer, der Konstanzer Vize-Polizeipräsident, erklärt, warum die Polizei erst gestern an die Öffentlichkeit gegangen ist: „Wir haben uns jetzt in Abstimmung mit dem Ministerium für den ländlichen Raum und der Staatsanwaltschaft dazu entschieden, weil wir nun eine Videoaufzeichnung des mutmaßlichen Giftauslegers haben und die Bevölkerung sowohl warnen als auch um Mithilfe bitten wollen.“ Wie ernst die Behörden den oder die Erpresser nehmen, unterstreicht diese Aussage von Uwe Stürmer: „Dieser Fall ist herausragend, wir gehen von einem skrupellosen Täter aus, der den Tod von Menschen billigend in Kauf nimmt.“

Als Schadstoff bei der Lebensmittel-erpressung wurde den Behörden zufolge Ethylenglycol verwendet. „Es wurde in die Nahrung eingerührt“, sagt Ministerialrätin Petra Mock. Es handele sich um eine klare, süß schmeckende Flüssigkeit. „Schon 30 Milliliter sind bei Erwachsenen gesundheitsgefährdend“, sagt sie. Ethylenglycol müsse aber nicht tödlich sein, wenn rechtzeitig ärztlich dagegen vorgegangen werde, sagt Mock.

Keine Panik

Ministerialrätin Mock appelliert an Verbraucher, in Zukunft beim Einkauf sensibilisiert vorzugehen. „Wir können nicht zielgerichtet bestimmte Lebensmittel vom Markt nehmen, da wir nicht wissen, welche Lebensmittel manipuliert sein und welche Substanzen benutzt werden könnten.“ Auf jeden Fall bittet sie die Bevölkerung um erhöhte Aufmerksamkeit: „Bitte schauen Sie sich die Verpackungen genau an, und wenn Ihnen etwas auffällt, bitte unterrichten Sie die Filialleitung oder die Mitarbeiter.“ Die Polizei möchte sich nicht auf Babynahrung konzentrieren, wie Uwe Stürmer sagt: „Wir sprechen ganz allgemein von Lebensmitteln, da wir nicht sicher sein können, um was genau es sich handeln könnte.“ Grundsätzlich sieht er keinen Grund, in Hysterie oder gar Panik zu geraten: „Das wäre kein guter Ratgeber. Erhöhte Aufmerksamkeit ist aber angebracht.“ Vor allem, da die Polizei mittlerweile von dem zweiten Szenario ausgeht: Nachdem die erste Giftattacke gezielt, also mit Ankündigung und Beschreibung, ablief, sei es nun möglich, dass irgendwo irgendwelche Lebensmittel kontaminiert in Regale gestellt werden. „Wir begrenzen das nicht mehr lokal, sondern geben dem Fall eine europäische Relevanz.

“ Mit dem Gang an die Öffentlichkeit habe die Polizei außerdem einen erheblichen Fahndungsdruck auf den oder die Täter aufgebaut. Das Wochenende stehe aber vor der Tür „und wir können nicht sicher sein, ob der Täter erneut auslegt. Diese Gefahr minimieren wir mit dem Gang in die Öffentlichkeit, da es für den oder die Täter immer schwieriger wird, vergiftete Lebensmittel auszulegen“.

"Ich kann nur alle dazu aufrufen, besonnen zu bleiben und jetzt besonders aufmerksam und vorsichtig zu sein."Andreas Brand, OB ...
"Ich kann nur alle dazu aufrufen, besonnen zu bleiben und jetzt besonders aufmerksam und vorsichtig zu sein."

Andreas Brand, OB Friedrichshafen | Bild: Andreas Ambrosius

Das sagt Edeka

Sabine Seibl, Mitglied der Geschäftsführung von Edeka Baur aus Konstanz, sagt, wie die Mitarbeiter der Kette nun vorgehen: „Wir sind flächendeckend deutschlandweit sensibilisiert an jedem Standort. Wir werden noch mehr Wert als sonst schon darauf legen, die Waren sehr gut anzuschauen.“ Es sei zwar faktisch unmöglich, jede einzelne Ware in die Hand zu nehmen, „doch wir sind sehr, sehr aufmerksam“. Sie geht davon aus, „dass sowieso rund 99,9 Prozent der Verbraucher daheim nach dem Einkauf die Waren begutachten, und wenn beispielsweise ein Glas mit Essiggurken oder Babynahrung beim Öffnen nicht klackt, dann läutet die innere Alarmanlage“.

Die Polizei sagt, dass Kliniken im Lande aufgefordert worden seien, sich auf etwaige Ernstfälle vorzubereiten. Andrea Jagode, Pressesprecherin des Gesundheitsverbundes Landkreis Konstanz, dazu: „Wir sind immer auf Notfälle vorbereitet. Sollten Fälle von Lebensmittelvergiftungen auftauchen, werden die zuständigen Behörden ohnehin benachrichtigt.“ Dafür existiere ein Netzwerkplan für die enge Zusammenarbeit.

Friedrichshafens Oberbürgermeister Andreas Brandt sagt gegenüber dem SÜDKURIER: „Wie alle anderen bin ich persönlich und auch als Oberbürgermeister zutiefst erschüttert. Ich kann nur alle dazu aufrufen, besonnen zu bleiben und jetzt besonders aufmerksam und vorsichtig zu sein. Bei einem Verdacht sollte jeder von uns sofort die Polizei informieren und sie bei den Ermittlungen unterstützen.“

Mittlerweile hat sich die Sonderkommission „Apfel“ mit 220 Beamten gebildet, die laut dem Konstanzer Polizeipräsidium nach einem bundesweiten Plan vorgeht, der das Vorgehen bei herausragenden Erpressungen vorschreibt. „Da gibt es mehrere Ermittlungsabschnitte, auf die ich jetzt verständlicherweise im Detail nicht eingehen kann“, sagt Uwe Stürmer, der immerhin nach der Pressekonferenz vom Donnerstagmorgen erfreut registriert hat, „dass in der Hinweiszentrale seit der Veröffentlichung die Telefone klingeln“.



 

Kunden aufgepasst!


Ethylenglycol ist eine sirupartige Flüssigkeit. Es ist sowohl farb- als auch geruchslos, es schmeckt süßlich. Der Stoff greift nach dem Verschlucken das Zentrale Nervensystem an, dann das Herz und schließlich die Nieren. In größeren Mengen kann Ethylenglycol tödlich sein. Ethylenglycol kommt etwa als Frostschutzmittel zum Einsatz. In den 80er-Jahren wurde Glycol bekannt im Zusammenhang mit gepanschtem Wein.

Verbrauchern wird geraten, bis zur Ergreifung des Täters beim Einkauf auf Besonderheiten zu achten. Wichtig ist etwa, dass die Verpackung von Produkten nicht beschädigt ist. Auch wer in den vergangenen Tagen einkaufen war, sollte dies zu Hause kontrollieren. Gläser etwa müssen beim Öffnen knacken. Wer verdächtige Beobachtungen macht, kann sich direkt mit der Polizei in Konstanz in Verbindung setzen. Die Telefonnummer lautet: 07531/995-3434

 
 

„Das kann jederzeit wieder passieren“

 

Polizeivizepräsident Uwe Stürmer vom Polizeipräsidium Konstanz.
Polizeivizepräsident Uwe Stürmer vom Polizeipräsidium Konstanz. | Bild: Oliver Hanser (dpa)
Uwe Stürmer ist der Polizei-vizepräsident des Polizeipräsidiums Konstanz. Er äußert sich im Gespräch mit dieser Zeitung zum Stand der Dinge im Erpressungsfall.

Herr Stürmer, Sie haben in einem Markt in Friedrichshafen vergiftete Babynahrung sichergestellt. Gehen Sie davon aus, dass der Täter auch aus dem Bodenseeraum kommt?

Das wissen wir zum jetzigen Stand der Ermittlungen nicht. Wir wissen nur, dass in Friedrichshafen die vergifteten Lebensmittelprodukte sichergestellt werden konnten. Es ist aber angedroht worden, dass das Gift auch überregional ausgebracht werden könnte. Insofern können wir zu der Herkunft des Täters nichts sagen.

Wann genau wurden die vergifteten Produkte verteilt?

Nach den jetztigen Erkenntnissen wissen wir das sehr genau: am Samstag, den 16. September. Am Sonntag und an den Tagen darauf konnten die vergifteten Produkte vollständig gesichert werden. Es bestand also keine Gefahr für die Bevölkerung.

Und trotzdem jetzt die Warnungen. Mit was müssen wir rechnen?

Es gilt zunächst einmal, Panik und Hysterie zu vermeiden. Wir müssen die Bevölkerung darauf aufmerksam machen, dass das jederzeit wieder passieren kann. Wobei nach der Veröffentlichung ein großer Fahndungsdruck auf dem Täter lastet. Sein Bild ist jetzt in der Öffentlichkeit, er ist jetzt bekannt und damit steigen die Chancen, dass wir ihn ermitteln können. Das Risiko, wenn er das noch einmal macht, steigt jetzt. Ich gehe davon aus, dass der Täter jetzt in der Defensive ist. Wir können aber nichts ausschließen.

Was kann ich als Verbraucher jetzt tun?

Eine gewisse Aufmerksamkeit ist angebracht. Sind die Produkte original verpackt? Sind die Verpackungen beschädigt? Wir haben Babynahrung sichergestellt, es können aber auch andere Produkte in Frage kommen.

Was genau sind die Forderungen des Erpressers?

Es handelt sich um einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag. Mehr kann ich nicht sagen.

Wie geht es jetzt weiter bei Ihren Ermittlungen?

Schon seit dem 16. September ermitteln wir intensiv. Ist es ein Alleintäter? Oder ist noch jemand daran beteiligt? Wir müssen abwarten und Hinweise bewerten. Folgende Abwägung steckt dahinter: Wir haben zunächst gewartet, weil wir sicher waren, wir hätten alles. Wir können jetzt aber nicht ausschließen, dass der Täter nicht erneut auslegt. Daher haben wir uns entschlossen, den Gang an die Öffentlichkeit zu tätigen. Wir bitten die Menschen um Unterstützung. (aks)