Was machen die zwölf Männer, die sich abends in einem spanischen Lokal in der Konstanzer Innenstadt treffen? Klugerweise bestellen sie Paella oder den Salatteller. Dann bestellen Sie Kaffee und ein zweites Glas Wein. Und dann geschieht Merkwürdiges: Der Zwölfer-Club packt Bücher und Aufsätze aus.
Man diskutiert und wirft Thesen in den Gewölbekeller. Worte wie Wahrheit, Evolution, Leitkultur fallen. Der Kreis im „Costa del Sol“ erinnert an die Leseclubs des 19. Jahrhunderts, an die Freimaurer oder einen Geheimbund. Hier tagt die Giordano-Bruno-Gesellschaft (GBS) – ein Bund von Menschen, die mit Religion nichts mehr am Hut haben.
Religion? Von gestern
Die Männer verbindet mindestens eines: Sie haben mit allem abgeschlossen, was kirchlich-religiös geprägt oder beeinflusst ist. Sie wurden als Babys getauft und später konfirmiert. Im Erwachsenenalter reifte in ihnen die persönliche Erkenntnis: Die Volkskirchen stehen dem Fortschritt im Weg. Weil sie an etwas glauben, was sich nicht beweisen lässt.

Denn darum geht es der GBS und ihren Mitgliedern: Glaube, so sagen sie, ist von gestern, Relikt einer Vorzeit, in der sich Menschen nicht anders behelfen konnten als mit der Erfindung von Trostspendern und Götterbildern.
Werner Koch entkernt die letzte seiner Miesmuscheln und zitiert den Philosophen Ludwig Feuerbach, der sagte: „Berge versetzt der Glaube. Jawohl! Die schweren Probleme löst der Glaube nicht auf, sondern verschiebt sie nur.“ Und Dieter Kaiser sagt: „Religion ist ein Agglomerat. Heute sind wir weiter.“
Kirchensteuer? Geht den Staat nichts an

Während die religiöse Praxis noch immer Privatsache sei, bringen sich die Kirchen im öffentlichen Raum stark ein. Zu sehr, sagt GBS-Mitglied Peter Degenhart. Die evangelische wie auch die katholische Konfession seien überrepräsentiert in der Bundesrepublik. Katholische Kindergärten erhalten staatliche Zuschüsse, die Professoren der theologischen Fakultäten bezahlt das Land. Degenhart und seine Mitstreiter sehen das als Füllhorn von Subventionen, die nicht berechtigt seien. Sie fragen: Warum macht der Staat mit?
Privilegien? Nicht mit Giordano Bruno
Carsten Frerk ist einer der Hausphilosophen der Giordano-Bruno-Gesellschaft. Frerk schreibt Bücher gegen das, wie er meint, klerikal beherrschte Land. Er nennt Deutschland eine „Kirchenrepublik“. Ist der Ausdruck zutreffend? Die Männer in der Runde nicken zustimmend. Zieht der Staat denn nicht die Beiträge für die Kirchen ein? Das halten sie für nicht richtig. Die Republik möge sich zurückhalten, fordern sie. Völlige Neutralität, keine Privilegien.

GBS-Mann Andreas Leber hält die Verdienste der Kirchen ohnehin für überschätzt. „Die Kirche tut, als ob sie die Menschenrechte erfunden hätte,“ sagt er. Dabei habe sie die Grundrechte jahrzehntelang blockiert.
Die heißen Eisen fassen die Humanisten gerne an. Da ist die Beschneidung von Jungen aus rituellen Gründen – das lehnen die Freidenker vehement ab. Ihr Einspruch zielt auf Juden und Muslime und auf die Diskussionen, die immer wieder aufbranden: Darf man Kindern ohne medizinische Not so massiv auf den Leib rücken? Die Bundesrepublik duldet es und drückt ein Auge zu, auch aus historischen Gründen. Das sei falsch, sagen die Männer einhellig. Beschneidung sei Verletzung, nichts anderes.
Wenn man den Katalog der Bruno-Brüder ansieht, liest sich das nur wie „Anti“. Doch wo bleiben die positiven Ansätze der Männer, die bei Rioja und Schmorfleisch über die Entstehung des Universums meditieren? Die mit Jahrhunderten der Kirchengeschichte abrechnen und in den Glaubenssystemen vor allem ein allgegenwärtiges, monströses Hemmnis für Fortschritt sehen?
Kleines Häufchen?
Die zwölf Bürger in der Kneipe sind die Spitze des Eisbergs – jene Interessierten, die aktiv ein Weltbild ohne Gott und ohne Metaphysik verfolgen. Der Eisberg selbst ist riesig. Die Konfessionslosen oder Konfessionsfreien, wie sich selbst nennen, bilden mittlerweile die größte Gruppe in Deutschland. Etwa 28 Millionen Menschen werden bundesweit dazu gerechnet. Das sind mehr Schäfchen, als die katholische oder die evangelische Kirche jeweils für sich zusammenbringen. Durch die anhaltenden Kirchenaustritte und den beständigen Atheismus in den östlichen Bundesländern bringen Konfessionslose den größten Posten in die Statistik ein.
Mehr als jeder Dritte lebt ohne eingetragenes religiöses Vorzeichen, ohne Kirchensteuer, ohne kirchliche Pflichten. Gemessen an der hohen Zahl ist es ruhig um sie. Die wenigsten von ihnen sind organisiert. Sie bilden den Eisberg unter der Wasserkante.

Kathedralen? Keinen Sinn für Sinnlichkeit und Rituale
Wie also kann man vernünftiges Denken attraktiv organisieren? „Wir haben keine Kathedrale gebaut,“ sagt GBS-Mitglied Bruno Mattes und bringt damit einen emotionalen Mangel zur Sprache. Der italienische Philosophen-Rebell Giordano Bruno und seine modernen Nachfahren praktizieren keine Rituale, sie verfügen über keinerlei Symbole. Was die kritisierten Glaubensgemeinschaften im Übermaß besitzen, fehlt ihnen völlig: Die Kraft des Bildes, die Hypnose der Liturgie, die sinnliche Seite.
Deshalb treffen sie sich in einem säkularen Lokal. Ihre geistigen Vorläufer – Freimaurer oder Illuminaten – hatten noch Geheimnisse und verschiedene hierarchische Grade. Die Freidenker eben nicht. Ein Freundes- und Diskussionszirkel beim Spanier.
Muslime ohne Islam? Auch das gibt es
Auch Gökhan Yildiz gehört diesem Kreis an. Im Gegensatz zu den anderen Männern stammt er aus einer muslimischen Familie. Dem Islam hat er – mehr oder minder offen – abgeschworen. Den Ausschlag gab eine Predigt in der Moschee, die er einmal hörte: „Der Imam predigte, dass nur Muslime ins Paradies kommen,“ erzählt Yildiz. Diese steile Behauptung ließ ihn grübeln. Warum nur Muslime? Ist der Himmel eine religionsexklusive Lounge? Er wandte sich ab. „Meine Familie ahnt es,“ sagt der junge Mann im Gespräch mit dieser Zeitung, sie fragt taktvollerweise nicht danach. Seine Freunde wissen es.

Wer den Abend verfolgt, erlebt eine sehr vernünftige Diskussion. Die Evolutionslehre von Charles Darwin gilt als gesetzt. Der Mensch, der seine Fähigkeiten ausreift und zum Nutzen aller einsetzt, ist das Ideal. Wenn es ein Bild gibt, das die Bruno-Gesellschaft symbolisiert, dann ist es der Vitruvianische Mensch von Leonardo da Vinci – die Männergestalt in einem selbstgezogenen Kreis, die weder Gott noch Magie braucht.
Fortschritt? Immer weniger Straftaten
Und sonst? Die Konfessionslosen nennen sich lieber Freidenker oder evolutionäre Humanisten. Sie wollen sich nicht nur negativ definieren. Jürgen Röder sitzt auch an dem großen Tisch im „Costa del Sol“. Er schaut nach vorne, sucht und findet das Positive. So kommt er zu einem überraschenden Ergebnis: „Es gibt immer weniger Verbrechen. Die Kriminalität geht zurück.“
Röder redet nicht daher, er steckt vielmehr tief im Thema drin, durchforstet die Literatur und verfasst selbst Aufsätze zum Thema. Auch wenn die öffentliche Wahrnehmung anders ist: In Deutschland kehrt sich vieles zum Besseren. Das wiederum wäre mindestens ein Beweis für den stetigen Fortschritt, auf den die Aufklärer seit bald drei Jahrhunderten setzen.