Es hätte der Höhepunkt des AfD-Wahlkampfs für den am Sonntag bevorstehenden Urnengang in Bayern werden sollen: Am Tag der Deutschen Einheit war Alice Weidel, Co-Bundeschefin der AfD mit Wahlkreis Bodensee, im zwischen Thüringen und Bayern geteilten 50-Seelen-Dorf Mödlareuth als Hauptrednerin eingeplant.
„Für unser 10-jähriges Jubiläum freuen wir uns, mit Dr. Alice Weidel einen ganz besonderen Gast ankündigen zu dürfen! Sie wird ab ca. 14 Uhr sprechen“, kündigte die AfD Thüringen mit ihrem rechtsextremen Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke auf ihrer Homepage an.
„Ich würde nichts lieber tun“
Statt Weidel, die auch einen Wohnsitz in Überlingen am Bodensee hat, trat ein AfD-Vertreter vors Mikrofon und sprach zu mehreren Tausend Besuchern: Es habe „am vergangenen Wochenende einen sicherheitsrelevanten Vorfall bei Frau Weidel“ gegeben.
„Sie und ihre Familie wurden von der Polizei aus ihrer privaten Wohnung evakuiert und an einen sicheren Ort verbracht, da sich die Hinweise verdichteten, dass auf sie ein Anschlag inklusive Familie geplant wird“, sagte der AfD-Mann. Das Publikum reagierte mit lauten Buh-Rufen, wie aus einem veröffentlichten Video hervorgeht.
Er fuhr fort: „Aus diesem Grund bittet Frau Weidel um Verständnis, dass sie heute nicht vor Ort sein kann. Sie darf nicht aus diesem Safehouse raus, sie muss untergetaucht bleiben bis auf Weiteres.“ Dann wurde eine Videobotschaft Weidels an die „lieben Freunde in Bayern“ abgespielt: „Ich würde nichts lieber tun, als heute bei euch zu sein, aber ich kann es leider nicht“, sagte Weidel in dem Video.

„Hausarrest für einen politisch missliebigen Kandidaten“
Die Szene habe gewirkt, als würde Weidel ihre Botschaft direkt aus einem sogenannten Safehouse senden, einem geschützten Versteck der Sicherheitsbehörden, berichtete das Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘.
In einem Text auf dem YouTube-Kanal von Norbert Kleinwächter, stellvertretender AfD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, heißt es zudem: „Das Grußwort von Frau Dr. Alice Weidel über ein Video aus dem Safehouse.“ Und: Die Polizei habe erklärt, „gegen Frau Dr. Weidel und ihre Familie ist ein Terror-Anschlag geplant“.

Kleinwächter hielt nach Weidels Grußwort in Mödlareuth eine wutentbrannte Rede, wie aus einem weiteren Video hervorgeht: Sie sei „derart bedroht“ worden – mit ihrer Familie –, dass sie das Safehouse nicht verlassen könne. „Hausarrest für einen politisch missliebigen Kandidaten – das gab es zuletzt vor der Teilung (Deutschlands im Jahr 1949, Anm. d. Red.)“, empörte sich Kleinwächter.
Auf der AfD-Wahlkampfveranstaltung sorgte der angebliche Hausarrest Weidels für viel Gesprächsstoff, was der Partei gelegen zu kommen schien: „Eine Spitzenpolitikerin in Deutschland muss untertauchen, da sie und ihre Familie in Gefahr sind. So ist das 2023“, sagte ein AfD-Vertreter in Mödlareuth.
Im Strand-Restaurant statt im Safehouse
Der „Spiegel“ deckte nun auf, dass Weidel zum Zeitpunkt der AfD-Wahlkampfveranstaltung in Mödlareuth nicht – wie von mehreren AfD-Vertretern behauptet – in einem Safehouse oder gar unter Hausarrest weilte, sondern auf der spanischen Ferieninsel Mallorca. Dort sei sie am Nachmittag des 3. Oktobers in einer Ortschaft an der mallorquinischen Ostküste in einem Strand-Restaurant gesehen worden – gemeinsam mit ihrer Schweizer Lebensgefährtin.
Weidels persönlicher Sprecher, Daniel Tapp, war für den SÜDKURIER weder auf dem Festnetz noch am Handy erreichbar. Dem „Spiegel“ sagte er: „Es ist korrekt, Frau Weidel hat sich mit ihrer Familie zum besagten Zeitpunkt auf Mallorca aufgehalten.“
Anti-Terror-Einheit Luchs im Einsatz
Laut Tapp habe es jedoch tatsächlich einen sicherheitsrelevanten Vorfall gegeben. Allerdings nicht, wie in Mödlareuth behauptet, „am vergangenen Wochenende“, sondern zehn Tage vor dem Wahlkampfauftritt – am Donnerstag, den 23. September. Die Kantonspolizei Schwyz bestätigt dem SÜDKURIER „einen Polizeieinsatz am 23. September im Bezirk Einsiedeln“, wo Alice Weidel mit ihrer Lebensgefährtin, einer Schweizer Filmemacherin, und ihren beiden Kindern lebt. Weitere Angaben könnten nicht gemacht werden.
Schweizer Medien berichten, was genau geschehen sein dürfte: „Polizisten an neuralgischen Punkten, Auto- und Personenkontrollen und dann auch noch ein Einsatz der Zentralschweizer Sondereinheit Luchs, trainiert für Anti-Terror-Einsätze – für den Wallfahrtsort Einsiedeln ist dies etwas Außergewöhnliches“, schreibt der ‚Tages-Anzeiger‘.
Weidel-Sprecher Tapp erklärte: Die „häusliche Umgebung“ von Weidel sei ein „mutmaßliches Anschlagsziel“ gewesen. Deshalb habe die Politikerin nach dem „sehr aufrührenden Ereignis (…) eine Empfehlung“ befolgt, ihrem Wohnsitz im innerschweizerischen Einsiedeln fernzubleiben.
Keine Empfehlung von BKA und Polizei
Von wem diese Empfehlung ausgesprochen worden sein soll, ist unklar. Das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) ist für die Sicherheit der Abgeordneten des Bundestags und damit auch für Weidel verantwortlich.
Ein BKA-Sprecher sagte dem Nachrichtenmagazin ‚Focus‘, dass die abgesagte Teilnahme an der Wahlkampfveranstaltung in Mödlareuth am 3. Oktober „durch Alice Weidel nicht auf Veranlassung oder Empfehlung des BKA“ geschehen ist. Auch das für Weidels deutschen Wohnort in Überlingen zuständige Polizeipräsidium Ravensburg hat keine Empfehlung ausgesprochen, wie ein Sprecher dem SÜDKURIER bestätigt. Ob die Kantonspolizei Schwyz eine mögliche Empfehlung aussprach, dazu will sie sich auf Anfrage „aus polizeitaktischen Gründen“ nicht äußern.
Sechs Tage nach der mutmaßlichen Anschlagsdrohung in Einsiedeln nahm Weidel bereits wieder an einer Bundestagssitzung in Berlin teil. Im Plenarprotokoll vom 29. September sind mehrere Zwischenrufe der Co-Chefin der AfD verzeichnet.
Der „Spiegel“ fragte Weidels Sprecher, wie der Mallorca-Trip inklusive Besuch eines öffentlichen Strand-Restaurants mit der angeblichen Bedrohungslage gegen ihre Person und den damit verbundenen Sicherheitsmaßnahmen vereinbar sei. Darauf gab es zunächst keine Antwort.

Später sagte Tapp der Deutschen Presseagentur: „Man kann sich wahrscheinlich schwer vorstellen, was es mit einer Familie macht, wenn man unter Polizeischutz sein Zuhause verlassen muss.“ Das habe Weidel dazu bewogen, „einige Tage mit ihrer Familie in Ruhe und relativer Abgeschiedenheit zu verbringen“, so Tapp. Laut ihm hält sich die AfD-Chefin seit Sonntag, 1. Oktober, auf Mallorca auf und will in den nächsten Tagen zurückkehren.
„Ich wohne im Bodenseekreis“
Auf ihre Wohnsituation angesprochen hatte Weidel Anfang September im ARD-Sommerinterview gesagt: „Ich wohne im Bodenseekreis.“ Sie ergänzte, dass sie eine schweizerische Lebensgefährtin habe. „Mit der bin ich schon seit 20 Jahren zusammen und qua Definition hab ich natürlich auch einen Wohnsitz in der Schweiz (…)“, so die Bundestagsabgeordnete.
Am deutschen Wohnsitz von Alice Weidel in Überlingen kam es laut zuständigem Polizeipräsidium Ravensburg „zu keinem Polizeieinsatz in den zurückliegenden Wochen“ wegen einer möglichen Bedrohung der AfD-Chefin.
Ob aktuell eine Gefährdungssituation der Politikerin vorliegt, dazu könne die Polizei „aus Geheimhaltungsgründen grundsätzlich keine Auskunft geben“, sagte ein Polizeisprecher dem SÜDKURIER. Die Sicherheitsaspekte würden hier das Interesse der Öffentlichkeit überwiegen.