Wenn‘s nach dem Publikum in Villingen geht, könnte Boris Palmer auch gleich Bundeskanzler werden. Die 900 Sitzplätze in der Neuen Tonhalle waren in anderthalb Tagen ausverkauft. „Das schafft eigentlich nur noch Taylor Swift“, scherzt Stefan Lutz, Chefredakteur des SÜDKURIER zum Auftakt seines launigen Austauschs am Mittwochabend mit dem früheren Grünen-Rebellen.

Was der Tübinger Oberbürgermeister zu sagen hat, interessiert, auch wenn diese Aussagen sein politisches Zuständigkeitsgebiet gelegentlich überschreiten. Was er als Bundeskanzler machen würde – die Frage wird Palmer mehrfach gestellt, auch aus dem Publikum.

Dem Mann aus dem Remstal, einstiger Einser-Abiturient, seit 18 Jahren OB im Uni-Städtchen Tübingen, bekannt fürs Tacheles-Reden, teilweise bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus, traut man da relevante Antworten zu – und er liefert diese auch.

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Palmer, gewohnt eloquent, schüttelt die Problembeschreibung und die Leitsätze seines Regierungsprogramms, mit denen er Deutschland reformieren würde, locker aus dem Ärmel.

Problem Nummer eins ist für ihn Stagnation der Wirtschaft, die strukturell bedingt sei, weil das Geschäftsmodell Deutschlands der letzten 20 Jahre nicht mehr funktioniert, das da lautete: von Russland billiges Gas beziehen, den Chinesen Autos verkaufen und von den USA die Sicherheit garantiert zu bekommen.

Stream zum Nachschauen: Boris Palmer beim großen SÜDKURIER VS-Forum

Zurück zu alten schwäbischen Tugenden

Der Weg aus dem Tal führt über Arbeit, die sich wieder lohnen muss (Lohnabstandsgebot zur Sozialhilfe), und schwäbischen Fleiß. Die Rente mit 63 müsse weg: „Wenn ich zu wenige Fachkräfte habe, dann kann es sich eine Volkswirtschaft nicht erlauben, Leute zwei Jahre früher Rente zu schicken, damit 400.000 Fachkräfte aus dem Arbeitsmarkt rauszunehmen und dafür jedes Jahr neun Milliarden Euro Steuergeld aufzuwenden. Dieser ökonomische Irrsinn muss aufhören“, sagt er und empfiehlt der künftigen neuen Bundesregierung, dass diese sich am ersten Tag darum kümmern soll.

Womit für den Ex-Grünen klar ist, dass der amtierende Bundeskanzler dies nicht bleiben dürfe. „Olaf Scholz kann‘s nicht sein, denn der verteidigt das bis heute als Respektrente.“

Migration wird von anderem Thema getoppt

Boris Palmer machte früh seinem Unbehagen über den Umgang mit Flüchtlingen Luft. Dem „Wir schaffen das“ von Kanzlerin Angela Merkel setzte er „Wir können nicht allen helfen“ – so der Titel seines 2017 erschienenen Buchs entgegen. Zur Migration sagt er auch am Abend in Villingen einiges – dazu später mehr.

Aber für das bestimmende Thema bei der im Februar anstehenden Bundestagswahl hält Palmer etwas anderes: „Das Megathema ist das Zusammenbrechen der öffentlichen Haushalte und der Wirtschaft, und die Frage: Wer rettet uns vor dem selbstverschuldeten ökonomischen Desaster?“

Beispiele aus der Praxis hat der OB immer parat, auch hier: „Ich werde dem Gemeinderat einen Haushalt vorlegen mit einem ordentlichen Ergebnis von minus 40 Millionen Euro. Vor zwei Jahren war das noch bei plus 20 Millionen“, erzählt er. Allerdings leistete sich die Unistadt in diesem Jahr auch eine 16 Millionen Euro teure Radbrücke, von denen die Stadt 4,5 Millionen Euro selbst trägt.

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Palmer hält die finanzielle Lage Tübingens für keinen Einzelfall. „Wir werden sehen, dass die Kommunen landauf, landab unter Wasser sind.“ Mögliche Folgen: Sparen beim Busverkehr, bei Schulen, bei Hallenbädern – bei den Menschen.

Wer das mache, „legt die Axt an das Fundament unserer Gesellschaft“. Deshalb hat er eigentlich nur einen Wunsch an die künftige Bundesregierung: dass der Bund den Kommunen nicht immer noch mehr Aufgaben aufbürdet. „Manche Dinge können wir uns nicht mehr leisten.“

Der nächste Shitstorm?

Auch hier wird Palmer konkret. Bis zu eine Million Euro koste ein Systemsprenger im Jahr, berichtet er zum Thema Jugendhilfegesetz und Bundesteilhabegesetz. „Systemsprenger sind Jugendliche, die so verhaltensauffällig sind, dass sie nur noch im 24-Stunden-Betrieb mit zwei Menschen betreut werden können“, so Palmer. „Das kannst du niemand mehr erklären.“

Dann sei irgendwann Schluss mit Integration und Sozialarbeit. „Dann kommt er in ein Zimmer, das wird abgeschlossen, und dann wird ihm gesagt: Wenn du aufhörst mit dem Scheiß, dann kannst du wieder raus“, so Palmers harte Aussage, die man durchaus als grundrechtswidrig lesen kann.

Fast 900 Gäste verfolgten das Gespräch von Chefredakteur Stefan Lutz mit Boris Palmer in der Neuen Tonhalle in Villingen.
Fast 900 Gäste verfolgten das Gespräch von Chefredakteur Stefan Lutz mit Boris Palmer in der Neuen Tonhalle in Villingen. | Bild: Hans-Jürgen Götz

Der Oberbürgermeister räumt selbst ein, dass das schwarze Pädagogik sei. Aber aus der Warte des Haushälters sieht vor allem er überbordende Vorschriften, die seiner Kommune trotz Zuwachs an Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen in seiner Amtszeit die finanziellen Spielräume rauben. Der Applaus im Saal ist ihm sicher.

Kampf gegen Vorschriften

Mit aus seiner Sicht unsinnigen Vorschriften hat der Sohn des Remstal-Rebellen Helmut Palmer so seine Schwierigkeiten. Palmer, der sich in der Vergangenheit auch schon als „Hilfssheriff“ (seine Wortwahl) betätigte und selbst für Sicherheit und Ordnung in Tübingen sorgte, geht es zum Beispiel mächtig gegen den Strich, dass der Datenschutz verhindert, dass Ausländeramt und Integrationshelfer miteinander kommunizieren.

Dass also ein junger Flüchtling, der tags zuvor mit einem Messer auf Polizisten losgegangen sei, am Folgetag vom Integrationshelfer erklärt bekomme, wo er zusätzliche Hilfeleistungen bekommt. „Der muss doch denken, das ist hier okay.“

Palmers Versuche, an solchen Vorschriften etwas zu ändern, scheitern – Bundes- und Landesminister schieben die Verantwortung hin und her, trauen sich eine Lösung gar nicht mehr zu. Palmers Einschätzung mag zugespitzt sein, aber sie trifft einen wunden Punkt: „Wir sind ein komplett verrechtlichter, hypertropher (zu Übertreibung neigender, Anm. d. Red.) Staat, der nicht mehr handlungsfähig ist.“

Boris Palmer (links) im Gespräch mit SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz.
Boris Palmer (links) im Gespräch mit SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz. | Bild: Hans-Jürgen Götz

Palmer hat sich in seiner Zeit bei den Grünen manche Grenzüberschreitung erlaubt. In Villingen hat er einen politischen Ratschlag für die CDU parat, der allemal zum Tabubruch taugt. Die Strategie der Brandmauer in Ostdeutschland funktioniere nicht mehr.

„Wenn man der Bevölkerung so offensiv sagt ,Auf keinen Fall darf diese Partei gewählt werden‘ – und die wird dann trotzdem in zwei Bundesländern stärkste Kraft, dann muss man sich selbst hinterfragen“, so Palmer. „Dann kann man die nicht noch mehr dämonisieren und den Untergang des Abendlands heraufbeschwören.“

Provokanter Rat an die CDU

Die CDU hat per Parteitagsbeschluss politische Zusammenarbeit mit der AfD und mit der Linken ausgeschlossen. Doch vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten der Regierungsbildung im Osten, empfiehlt er einen anderen Umgang mit der AfD. „Das bedeutet nicht in erster Linie, mit der Partei zu koalieren, aber ein bisschen abzurüsten.“

In Extremsituationen wie in Thüringen, wo selbst eine Koalition aus CDU, BSW und SPD noch über keine Mehrheit verfügen würde, halte er es nicht für demokratieschädlich zu überprüfen, ob man mit der AfD regieren könne. Palmers Rat an die CDU: Der AfD konkrete Bedingungen zu stellen, unter denen sie zur Koalition bereit wäre. „Erstens: Der Höcke wird nichts. Kein Nazi in der Regierung, fertig.“ Außerdem müsse die CDU den Ministerpräsidenten und den Innenminister stellen.

„Das glaubt mir doch in Tübingen keiner“, sagt Palmer und schießt ein Foto von der ausverkauften Tonhalle.
„Das glaubt mir doch in Tübingen keiner“, sagt Palmer und schießt ein Foto von der ausverkauften Tonhalle. | Bild: Hans-Jürgen Götz

Palmer schließt sich zudem der Überzeugung von Entertainer Harald Schmidt an, dass es die Wahlen im Osten gebraucht habe, damit die Parteien in der demokratischen Mitte aufwachen. Erst nach der verlorenen Europawahl habe der Bundeskanzler gesagt, dass Intensivtäter nicht in Deutschland bleiben dürften. Und unmittelbar vor den Wahlen in Sachsen und Thüringen gab es den ersten Abschiebeflug nach Afghanistan.

Er freue sich nicht über das Ergebnis, aber diese Proteststimmen seien „der einzige Weg, den anderen Parteien so Feuer zu geben, dass sich endlich etwas tut“.

Kehrt Palmer zu den Grünen zurück?

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte kürzlich im Podcast „Alles gesagt?“ den Wunsch nach Palmers Rückkehr geäußert. Diese verneint die Frage, ob er sich das vorstellen könne in Villingen jedenfalls nicht – und er macht deutlich, wie sehr ihm der Klimaschutz noch immer am Herzen liegt.

Allerdings anders als den manche in der Klimabewegung und Teile der Grünen betreiben wollten. Sprich: kein Verzichtsprogramm, keine Gefährdung der wirtschaftlichen Stabilität. „Das Moralisieren und Aufladen des Problems macht es unlösbar“, so Palmers Überzeugung. Von grünen Realos ist er damit nicht weit entfernt.