Herr Weibel, Stuttgart 21 verzögert sich weiter. Jetzt ist von einer Teileröffnung 2025 die Rede. Überrascht Sie das?

Nein. Es ist ganz offensichtlich, dass die DB hier in eine gigantische Komplexitätsfalle hineingeraten ist. Und das war eigentlich auch klar. Denn Stuttgart 21 war ursprünglich kein Bahnprojekt, sondern ein Immobilienprojekt. Auch von der DB ausgelöst, von Heinz Dürr, einem Stuttgarter (Unternehmer, Bundesbahnpräsident und von 1994 bis 1997 erster Vorstandsvorsitzender der neu aufgestellten Deutschen Bahn AG, die Red.)

Man wollte diese große Fläche, die durch die Gleisfläche brachlag, städtebaulich und kommerziell nutzen. Und man hat sich dafür entscheiden, den Bahnhof unter die Erde zu bringen. Damit hat man eine gigantisch komplexe Operation eröffnet. Ich habe selten, vielleicht noch bei der Elbphilharmonie in Hamburg, eine solche Kostentreppe gesehen – die von 2,5 bis 12 Milliarden Euro einfach dauernd ansteigt. Und jetzt will man dort auch noch einen digitalen Knoten einrichten.

Keine gute Idee?

Die DB hat schlicht das Knowhow nicht, das zeitgemäß umzusetzen. Die DB hat jetzt über Jahre gezeigt, welche Defizite sie hat. Und ein digitaler Knoten ist eine gigantisch große Aufgabe. Dafür müsste man doch erst einmal in relativ einfachen Verhältnissen einen Pilotbetrieb machen, bevor man in eine derartige Operation geht. Deshalb hat mich das überhaupt nicht überrascht.

Dieser digitale Knoten, der hier in Stuttgart aufgesetzt werden soll, gibt es ja noch nirgends in Deutschland in dieser Form. Funktioniert das in der Schweiz?

Nein, den gibt es auch nicht in der Schweiz. Wir haben da unsere Erfahrungen gemacht mit dem operativen System des ETCS, dem European Train Control System. Wir haben einen Pilotversuch gemacht – das war Ende der 1990er Jahre – und hatten unglaubliche Schwierigkeiten. Auf einer hochbelasteten Strecke hatten wir eine durchschnittliche Verspätung von 25 Prozent.

Dann haben Sie es gelassen?

Aufgrund dieses Ergebnisses haben wir beschlossen, dass wir auf der Neubaustrecke, die damals in Bau war, noch Signale einrichten müssen und es mit diesem System ETCS nicht direkt geht. Das war schwierig, denn wir mussten noch einmal 30 Millionen Franken in die Hand nehmen, um die Signale einzusetzen.

Aber Fakt ist: Wenn wir das nicht getan hätten, wäre diese Neubaustrecke zwei bis drei Jahre gestanden und hätte nicht genutzt werden können. Deshalb macht man solche Versuche mit so einem System. Und ein solches System in die Gleistopographie eines unterirdischen Bahnhofs einfügen zu wollen, das ist eine unglaublich herausfordernde Aufgabe. Und wie soll einer Unternehmung, bei der in den letzten 20 Jahren kaum einen Managementfehler nicht gemacht worden ist, gelingen, das umzusetzen?

Mit Ihrer Management-Erfahrung: Wie bekommt das jetzt noch aufs Gleis?

Da ist auch meine Management-Erfahrung überfordert. Es wäre unsinnig, jetzt noch Signale einzubauen und das Digitale nicht zu machen, denn dann hätte man wieder ein System, das eigentlich überlebt ist. Ich glaube, es bleibt nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Geschichte jetzt zu etablieren, mit Teilen, die weniger komplex sind, und dann zu versuchen, das Schritt für Schritt einzuführen. Ich glaube, man hat keine Alternative. Aber das heißt, dass man sich da noch auf einige Jahre mit Problemen einstellen muss.

Wie wichtig ist Stuttgart überhaupt im europäischen Schienennetz?

Stuttgart ist im europäischen System kein unglaublich wichtiger Knoten. Deshalb hat man damals Begründungen dafür gesucht, es wurde allen Ernstes gesagt, Stuttgart 21 und die drei Milliarden brauchen wir für den Verkehr von Paris nach Bratislava. Wenn man jetzt aber feststellt, dass man dafür den ganzen Zugang von Süden mit der Gäubahn verliert, dann ist das ein Treppenwitz der obersten Stufe. Und die Summe, die da hineingeht, ist völlig unverhältnismäßig.

Wann werden wir auf der Gäubahn umsteigefrei in den neuen Stuttgarter Tiefbahnhof einfahren können?

Ich hoffe jetzt, dass der Widerstand (gegen die Gäubahn-Kappung, die Red.) Resultate bringt. Denn es gibt ja Möglichkeiten, die Gäubahnstrecke sehr kurzfristig zu erhalten. Da sind wir wieder bei dem Immobilienprojekt als Ursache. Dass man eine Unsumme für den Tiefbahnhof ausgibt und am Ende eine ganze ganz wichtige Linie aus dem Süden abhängt, den westlichen Bodenseeraum, das obere Donautal, das obere Neckartal.

Zürich würde man einen Riesenumweg über Basel und Karlsruhe über Jahre hinaus zumuten. Es ist für mich völlig unverständlich, dass die DB da mitmacht. Da muss man einfach sagen: Das bahnpolitische Anliegen hat eine höhere Priorität als das städtebauliche Anliegen.

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Keiner der Beteiligten, die S21 einst vorantrieben, steht noch in Verantwortung. Ein Grund für das Debakel?

Nein. Ich glaube nicht, dass das Projekt an einem Verantwortungsdefizit leidet. Die Verantwortung müsste klar sein, wir haben ja eine Projektorganisation. Aber ganz offensichtlich leidet es an einem gewaltigen Knowhow-Defizit.

Auf welcher Ebene?

Auf oberster Ebene natürlich. Ich kannte sie alle, die DB-Chefs. Wir haben uns gut verstanden. Aber kein einziger von ihnen hat einen irgendeinen Sachverstand von der Bahn her eingebracht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Volkswagen oder Mercedes oder BMW einen branchenfremden Chef an die Spitze gestellt hätten. Da habe ich mich schon gewundert.

Die operative Führung einer Bahn, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, ist eine extrem herausfordernde Aufgabe. Die wird unterschätzt. Da hat es einfach an Bahn- und Branchen-Knowhow gefehlt.

Am Bodensee zeigt sich: Auch mit der teils völlig veralteten Schieneninfrastruktur der DB kann pünktlich gefahren werden – durch die SBB. Warum kann die SBB, was die DB nicht kann?

Es hat nicht nur mit der Infrastruktur, sondern auch mit dem Betrieb und der Kultur zu tun. Die Bahnkultur hat man zu einem wesentlichen Teil beschädigt, weil man völlig realitätsfremden Träumen nachgejagt ist. Ich habe wirklich nie verstanden, weshalb man eine Institution, die darauf angewiesen ist, dass in jedem Jahr staatliche Gelder in Milliardenhöhe eingeschossen werden, privatisieren sollte. Das ist eine völlig unverständliche Idee.

Und das Zweite war, dass man zu den Global Playern in der Logistikbranche gehören wollte. Wenn man die Köpfe in diesen Sphären hat, dann sind natürlich der Betrieb und das Netz nicht mehr im Fokus.

Wer hat da versagt?

Auf allen Ebenen wurden da gewaltige Fehler gemacht, aber nicht nur bei der DB. Das ist ein kollektives Versagen aller Aufsichtsebenen bis zum Rechnungshof gewesen. Das Netz ist in einem himmeltraurigen Zustand, und offenbar hat es niemand gemerkt. Und die DB hat nie ein stringentes Netzkonzept vorgelegt.

Das haben wir in der Schweiz in den 1980er Jahren gemacht. Es gab eine Volksabstimmung, dann haben wir das gemacht, und Ende 2004 hat es funktioniert. Ich habe nie verstanden, warum man das nicht einfach kopiert hat. Denn die Länder sind von der Struktur der Netze her sehr vergleichbar. Natürlich viel größer bei der DB, aber das ist nicht per se ein Nachteil.

Was ist Ihr Antrieb, sich weiter für den Bahnverkehr zu engagieren?

Ich bin seit 46 Jahren in diesem Sektor engagiert. Immer noch. Noch nie war die Bahn so gut positioniert wie heute. Kein anderes Transportmittel ist in der Lage, so viel Menschen und Güter auf knappen Raum zu befördern. Nun ist es an den Bahnen, ihre Chance zu ergreifen.

Was in Deutschland passiert, ist für Europa wichtig, ganz besonders auch für die Schweiz. Wir bewältigen heute 74 Prozent des alpenquerenden Verkehrs über die Schiene. Wenn der nördliche Zulauf nicht mehr funktioniert, bricht diese Säule schweizerscher Verkehrspolitik ein.