Auch mit dem Abstand von einem halben Jahr ist Thomas Y. entsetzt, wenn er auf einem Laptop das Polizeivideo vom Einsatz am Aschermittwoch in Biberach an der Riß gegen die Demonstranten anschaut. Polizisten zücken ihre Schlagstöcke und schlagen zu. Ein anderer sprüht Pfefferspray in die Menge, die bis dahin erkennbar friedlich war. Ein alter Mann weicht zur Seite aus und reibt sich weinend die Augen. Helfer werden rüde weggeschoben von den Polizisten. „Bis zu diesem Moment hatte ich das Gefühl, wir leben in einem Rechtsstaat“, sagt Thomas Y. kopfschüttelnd.
Das Video ist ein Beweismittel bei den elf Anklagen und rund 40 Strafbefehlen der Staatsanwaltschaft gegen Teilnehmer des Protests gegen den abgesagten politischen Aschermittwoch der Grünen in Biberach im Februar 2024. Viele Anklagen und Strafbefehle wegen des Vorwurfs der Nötigung, des Landfriedensbruchs und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte beziehen sich auf die Ereignisse rund um die blockierte Durchfahrt des Vorauskommandos von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne).
Das juristische Nachspiel dauert an
Die Polizei berichtete damals von mehreren verletzten Beamten, ermittelte unter anderem wegen Körperverletzung, Widerstands gegen Polizeibeamte und Gefangenenbefreiung. Auch der Mann, der die Scheibe eines Begleitfahrzeugs eingeworfen hatte, wurde ermittelt. Die Ereignisse waren bundesweit in den Schlagzeilen. Allerdings gab es auch Kritik am Vorgehen der Polizei vonseiten der Demonstranten. (Anmerkung der Redaktion: Unser Korrespondent Theo Westermann war in Biberach vor Ort und erlebte den Polizeieinsatz aus der Menschenmenge heraus.)
Thomas Y. und Michael X. (ihre richtigen Namen sind der Redaktion bekannt) sitzen an einem Abend im September zusammen mit Daniel Schenk in Hörenhausen unweit von Biberach, im Besprechungsraum der Firma Scheplast. Schenk ist deren Inhaber und Geschäftsführer, er steht offen mit seinem Namen zur Sache. Thomas Y. und Michael X. sind Landwirte aus dem Umland, beide Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr, einer ist Gemeinderat.
2018 erhielt Schenks Unternehmen, Hersteller von Kunststoffteilen, von der Landesregierung den Umweltpreis Baden-Württemberg. Er habe große Sympathie für die Landwirte, erzählt der Unternehmer. Alle drei nahmen schon vor dem Aschermittwoch aus Unzufriedenheit mit der Politik an Kundgebungen der Landwirte teil, nie kamen sie dabei mit der Polizei in Konflikt – und sie wollen jetzt ihre Sicht der Dinge darlegen.
Das wird den Bauern vorgeworfen
Der Strafbefehl, den Schenk erhielt und der dem SÜDKURIER vorliegt, beginnt wie folgt: „Im Rahmen der Protestaktion anlässlich des Politischen Aschermittwochs (…) blockierten bzw. umschlossen am 14.02.2024 ab ca. 9 Uhr (…) ca. 80 bis 100 teilweise aggressive und alkoholisierte, bislang lediglich teilweise identifizierte Personen die beiden Fahrzeuge (…) des polizeilichen Vorauskommandos des Bundesministers (…) Cem Özdemir. (…) Hierbei kam es aus der Menschenmenge heraus zu Handgreiflichkeiten der Protestierenden gegen die eingesetzten Polizeikräfte.“
Dann der direkte Vorwurf: „Gegen die Versuche der eingesetzten Beamten, (…) mittels einfacher körperlicher Gewalt den Platzverweis durchzusetzen und die Menschenmenge zu durchbrechen, wehrten Sie sich erheblich, indem Sie sich zwischen 9.43 Uhr und 9.50 Uhr teilweise in der ersten Reihe der Menschenmenge befindlich und teilweise mit anderen Personen in der Menschenmenge untergehakt, sich mit dem Oberkörper gegen die Einsatzkräfte gewandt, gegen diese stemmten und dadurch, wie von Ihnen billigend in Kauf genommen, die Durchfahrt des polizeilichen Begleitfahrzeugs weiter verhinderten.“

Für Michael X. gab es einen weitgehend gleichlautenden Strafbefehl über 2400 Euro, für Schenk über 8100 Euro, wegen höherer Tagessätze. Beide haben zunächst fristgemäß Einspruch eingelegt. Thomas Y. muss sich einer Anklage wegen eines Fußtritts gegen einen Polizisten im Gerangel stellen.
Daniel Schenk blickt ebenfalls auf das Video. Man sieht ihn, die Hände erhoben, er diskutiert mit den Beamten. Es ist – auf schlechter Tonspur – zu hören, wie ein Polizist sagt, man setze nun den Schlagstock ein. Schenk fragt immer wieder: „Warum?“ Dass das Vorauskommando ausgerechnet durch die enge Gasse neben der Stadthalle will, ist ihm bis heute unerklärlich.
„Ich hätte das nicht für möglich gehalten“
„Ab der dritten Reihe hat die Warnung der Polizei gar niemand mitbekommen“, so Schenk. Eine laute Ankündigung per Megafon gibt es nicht, plötzlich schlagen die Polizisten zu. Dann folgt der Pfefferspray-Einsatz. „Wenn man mich vorher gefragt hätte, hätte ich das nicht für möglich gehalten“, ergänzt Michael X. Im Video ist er hinter Schenk erkennbar. Schenk zeigt das Foto eines großen Blutergusses in seiner Leiste, Folge eines Stockhiebs.
Kurz vor dem Gespräch in Hörenhausen: In der Küche seines Hofs in Gammertingen im Landkreis Sigmaringen sitzt Karl Endriß, Vorsitzender des Kreisbauernverbandes Sigmaringen-Biberach. Das Geschehen vom Aschermittwoch ist ihm tief im Gedächtnis. Der Verband hatte in Biberach nicht zur Demonstration aufgerufen, das waren andere Gruppierungen. „Wir haben unseren Mitgliedern geraten, sich nicht im rechtsunsicheren Bereich zu bewegen.“

Endriß selbst wollte den Aschermittwoch der Grünen besuchen, vom Geschehen rund um die Wagenkolonne hat er nichts mitbekommen, wie er sagt. Hinterher trafen er und seine Mitstreiter Cem Özdemir noch im Landratsamt. Sein Gesamteindruck von der Stimmung vor der Halle: „Ich selbst habe es nicht als gefährlich empfunden, es war doch eher Volksfeststimmung.“
Vereinzelt hat der Bauernverband Anfragen von Mitgliedern wegen Strafbefehlen bekommen, hat Beratungsangebote gemacht. Bei den Betroffenen brodele es natürlich, so Endriß. Die Strafbefehle und Anklagen sieht er mit gemischten Gefühlen. „Das Vorgehen der Justiz ist schon sehr, sehr konsequent.“ Auf die politischen Folgen blickt er so: Die Grünen hätten die Geschehnisse optimal für sich genutzt, denn plötzlich seien die Landwirte als „Buhmänner“ dagestanden.
Beim Amtsgericht Biberach stellt man sich unterdessen auf eine Welle von Verfahren ein. Denn zu den bisherigen elf Anklagen können noch weitere Verfahren kommen, wenn jemand seinem Strafbefehl widerspricht. „Wir sind aktuell in der Phase der Terminierung“, sagt Amtsgerichtsdirektor Thomas Mönig auf Anfrage. Erste Verhandlungstermine dürfte es noch in diesem Jahr geben – aber nicht alle. „Die Fälle sind ja in Teilen nicht identisch.“
Zurück in Hörenhausen ist es inzwischen dunkel geworden. „Wir waren doch einfach nur da“, sagt Daniel Schenk über den Aschermittwoch. Ob er und Michael X. die Strafbefehle annehmen oder es auf ein Strafverfahren ankommen lassen, haben sie noch nicht entschieden. Das Vertrauen in einen fairen Umgang mit ihnen haben aber alle drei weitgehend verloren.