Der Vergiftungstod eines kleines Mädchens nach einem Kammerjäger-Einsatz lässt die Menschen in der Region nicht los: „Noch immer treibt mir der Bericht über die Todesumstände der kleinen Maria Anna O. Tränen in die Augen“, schreibt etwa Barbara Lechtreck aus Radolfzell dem SÜDKURIER.
„Wie unerträglich die Vorstellung, dass dieses kleine Wesen nicht mehr lachen, sich freuen, aufwachsen und die Welt für sich entdecken wird. Was für ein Verlust. So überflüssig, vermeidbar erscheint mir dieses Unglück“, so Lechtreck.
Schädlingsbekämpfer im Fokus der Ermittlungen
Am 5. August jährt sich der tragische Tod des Babys Maria Anna O. zum ersten Mal. Drei Tage nach einem von der Gemeinde Ebersbach-Musbach beauftragten Kammerjäger-Einsatz in einer Flüchtlingsunterkunft stirbt Maria kurz vor Mitternacht in einem Ravensburger Krankenhaus – wenige Minuten, bevor sie neun Monate alt geworden wäre.

Rasch konzentrierten sich die Ermittlungen der Kripo Friedrichshafen auf die Schädlingsbekämpfungsfirma aus dem bayerischen Allgäu, wo es zu einer Hausdurchsuchung kommt. Die Staatsanwaltschaft Ravensburg ging damals davon aus, dass es sechs bis acht Wochen dauern würde, bis ein toxikologisches Gutachten vorliege.
Nun, fast genau ein Jahr später, gibt es noch immer kein Ergebnis, was mehrere hochrangige Kriminalisten als „sehr ungewöhnlich“ kommentieren. Staatsanwältin Tanja Vobiller erklärt auf SÜDKURIER-Nachfrage, das Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg habe die toxikologischen Analysen inzwischen abgeschlossen, aber es fehle noch die Verschriftlichung.
Zum Grund für die fast zehnmonatige Verspätung gibt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Ravensburg an, dass das LKA für das Insektizid eine neue Analysemethode entwickeln habe müssen.
88 Millionen Menschen in absoluter Armut
In einem anderen Bereich, der nicht gerade dafür bekannt ist, dass dort mit besonders hohem Tempo gearbeitet wird, ist kürzlich – nach fast vier Jahren – eine folgenschwere Entscheidung gefallen: Das Verwaltungsgericht Sigmaringen verweigert Rachael O., der Mutter der getöteten Maria, ein Recht auf Asyl.

Das Gericht begründet seine inzwischen rechtskräftige Entscheidung in zweiter Instanz unter anderem damit, dass der Alleinerzieherin mit ihren beiden drei und vier Jahre alten und in Baden-Württemberg geborenen Kindern in ihrem Herkunftsland Nigeria weder Verfolgung noch Verelendung drohen würde. Dabei erwähnt das Gericht in seiner Urteilsbegründung, die dem SÜDKURIER vorliegt, dass 40 Prozent der rund 220 Millionen Nigerianer in absoluter Armut leben und mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag auskommen müssen.
„Es besteht akute Abschiebungsgefahr, rein rechtlich kann sie jederzeit abgeschoben werden“, sagt Tamara Haug, Anwältin der 24-Jährigen. Racheal O. sagt dem SÜDKURIER mit Blick auf den Terror von Boko Haram in ihrem Heimatland: „Ich kann mit meinen Kindern nicht in ein Land gehen, wo Menschen getötet werden und ein Krieg tobt.“

Gericht sieht keine seelische Erkrankung
Weder habe Racheal O. ein Zuhause in Nigeria noch jemanden, der ihr dort helfen könne. „Ich will nicht, dass meine Kinder leiden müssen“, sagt die junge Mutter und bricht in Tränen aus. Am schlimmsten sei für sie die Vorstellung, dass sie womöglich gewaltsam nach Nigeria gebracht werde, aber ihr getötetes Baby in Deutschland bleiben müsse. „Es ist menschlich verständlich, dass das ein Trauma auslöst“, sagt Rechtsanwältin Tamara Haug.
Doch das Gericht will keine seelischen Erkrankung bei Racheal O. anerkennen, denn die erforderlichen ärztlichen Nachweise dafür seien nicht erbracht worden, wie Julian Thüry, Sprecher und Richter am Verwaltungsgericht Sigmaringen auf Anfrage mitteilt.
Depression und Belastungsstörung diagnostiziert
Zwar habe Racheal O. bereits im Jahr 2018 ein Attest einer Tübinger Psychologin vorgelegt, die eine posttraumatische Belastungsstörung und eine mittelgradige Depression diagnostizierte, wie aus der 18-seitigen Urteilsbegründung, die dem SÜDKURIER vorliegt, hervorgeht. Doch dieses genüge den gesetzlichen Anforderungen alleine deswegen schon nicht, weil es nicht ein Arzt ausgestellt habe.

Ähnlich verhalte es sich mit einer dem Gericht vorgelegten Stellungnahme der Diakonie. Sie bestätigt, dass Rachael O. drei Gespräche in der dortigen psychologischen Beratungsstelle in Anspruch genommen hat.
Angst um lebende Kinder
Vom Richter angesprochen auf den „tragischen Kindstod“ und wie sie damit zurechtgekommen sei, soll die 24-Jährige laut Sprecher Thüry ausgesagt haben, dass sie zunächst von einem Psychologen betreut worden sei, jetzt keinen mehr benötige, ihre beiden Kinder sie sehr beschäftigten und sie keine Medikamente mehr einnehme. „Das Gericht konnte sich daher nicht davon überzeugen, dass eine (Trauma-)Erkrankung besteht“, schreibt Thüry vom Verwaltungsgericht Sigmaringen.

„Das ganz große Problem ist, dass sich die Mutter (Rachael O., Anm.) dafür entschieden hat, sich noch um ihre lebenden Kinder zu kümmern und gar nicht in Therapie gegangen ist, die gerade erst anläuft“, sagt Anwältin Tamara Haug.
Denn ihre Mandantin habe Angst gehabt, dass ihr ihre beiden Söhne im Zuge einer Therapie auch noch weggenommen würden, weil sei sie nach dem Tod ihrer Tochter gar nicht in der psychischen Verfassung gewesen sei, sich um ihre kleinen Jungs zu kümmern. „Nach außen hin gebe ich mich stark, aber nach innen bin ich es nicht“, sagt Rachael O. dem SÜDKURIER.
Deutschkurs und Therapie
Laut ihrer Verteidigerin Haug habe die 24-Jährige stets Furcht gehabt, dass ihr die strafrechtlichen Ermittlungen – welche sich zwar ausschließlich gegen die Schädlingsbekämpfungsfirma richten – im Asylverfahren dennoch negativ ausgelegt werden könnten.
„Es wäre für alle Beteiligten wichtig, dass das toxikologische Gutachten einmal vorliegt und es zu einem Abschluss kommt. Meiner Mandantin geht es wirklich nicht darum, dass sie jemanden bestraft sehen möchte – sondern, dass sie damit abschließen kann“, sagt die Juristin aus Wangen im Allgäu.

Jetzt startet Racheal O. einen einjährigen Intensiv-Deutschkurs in Ravensburg. Zudem hat die von Abschiebung bedrohte Alleinerziehende ihren nächsten Therapietermin im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg. Zwar liegt noch keine abschließende Diagnose vor, aber depressive Episoden, die behandlungsbedürftig sind, seien bereits festgestellt worden, wie Haug nach einem Gespräch mit der Psychologin erklärt.
Abschiebeverbot in letzter Minute?
„Das kann nicht einfach so abgelehnt werden, wie das das Gericht getan hat. Sobald die Diagnose des ZfP vorliegt, werden wir wahrscheinlich einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) stellen“, sagt die Anwältin. Dann könnte ein Abschiebeverbot ausgesprochen werden und Racheal O. sowie ihre beiden kleinen Kinder doch noch in Deutschland bleiben dürfen.