Stellen Sie sich vor, Sie landen im Gefängnis. Ohne Gerichtsprozess, ohne Anwalt, ohne jemals eine Straftat begangen zu haben – und zwar für immer und ewig. Klingt nach Mittelalter, Erdogan, Guantanamo. Ist es aber nicht. Es ist bayerisches Gesetz.

Es nennt sich Präventivhaft. Ein Instrument der Polizei zur Gefahrenabwehr. Bedeutet konkret: Bevor eine Straftat verübt wird, dürfen Polizisten Menschen in Gewahrsam nehmen – wie in allen anderen Bundesländern auch. Das ergibt Sinn. Nur die Bayern interpretieren diesen fundamentalen Eingriff in die Grundrechte seit Mitte 2017 außergewöhnlich. Damals wurde das sogenannte Polzeiaufgabengesetz (PAG) und damit auch der Gewahrsam im Detail überholt, an die neuen Gegebenheiten angepasst.

Nach zahlreichen Demonstrationen, viel Kritik von der Opposition und einer Expertengruppe, die Nachbesserungsbedarf forderte hatte die bayerische Landesregierung zugesichert, dieses bundesweit einzigartige Gesetz zu überarbeiten. Bis spätestens Ende 2019 sollte das geschehen, passiert ist aber bis heute nichts. Nun machen die Grünen im bayerischen Landtag erneut Druck – doch die Regierung beschwichtigt und verweist auf Verzögerungen durch die Corona-Krise.

Seit Amri ist die Höchstfrist weg

Ursprünglich wurde das erweiterte PAG nach dem Terroranschlag von Anis Amri am Breitscheidplatz in Berlin und dem Versagen der Sicherheitsbehörden eingeführt. Es sollte noch schneller möglich werden, terroristische Gefährder wegzusperren. Denn bei Amri kam man zu spät – obwohl lange klar war, dass der Mann gemeingefährlich ist.

Zuvor dauerte die Vorbeugehaft noch maximal 14 Tage. Seit 2017 können diese zwei Wochen für Inhaftierte – zumindest theoretisch – unendlich sein; es gibt keine Höchstfrist mehr; und wenig Kontrolle durch die Justiz. Richter müssen lediglich alle drei Monate prüfen, ob die vorsorgliche Haft noch verhältnismäßig ist. Und: Inhaftierte haben hinter Gitter kein Recht auf eine Verteidigung.

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Doch das ist nicht alles: Statt einer konkreten Gefahr braucht es nur eine drohende Gefahr. Heißt konkret: Die Begehung einer Straftat muss nicht mehr konkret erkennbar sein. Es reicht aus, wenn die Wahrscheinlichkeit begründet ist, dass in überschaubarer Zukunft eine Straftat begangen werden könnte.

Wer glaubt, dass die Polizei die Präventivhaft mit Bedacht, nur in absoluten Ausnahmesituationen anordnet, liegt falsch. Die Praxis hat nichts mit Terror oder der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu tun.

Neuer Gewahrsam wird nicht für terroristische Gefährder genutzt

In einer schriftlichen Anfrage zur Anordnung der neuen Gewahrsamsklausel von Grünen-Politikerin Katharina Schulze an den Bayerischen Landtag geht hervor, dass zwischen Juli 2018 und Mai 2019 insgesamt acht Personen länger als zwei Wochen in Gewahrsam genommen wurden.

In einem Fall wurde eine Person 91 Tage im Polizeipräsidium Oberbayern Süd festgehalten, weil sie „im Kontext eines Betäubungsmittelverfahrens Morddrohungen gegen Zeugen und seine Ex-Frau“ äußerste, heißt es im Schriftstück, das dem SÜDKURIER vorliegt.

Über 28 Tage wurde eine Person eingesperrt, weil sie wiederholt mit unterschiedlichen Autos unter Alkohol- und Drogeneinfluss und ohne Führerschein unterwegs war. „Bei einer Gefährderansprache zeigte er sich uneinsichtig, woraufhin der entsprechende richterliche Beschluss erging“, heißt es in der Begründung. Und insgesamt 92 Tage landete ein Mann ohne das Recht auf einen Anwalt hinter Gitter, weil er ein Kontaktverbot gegenüber seiner Ex-Freundin missachtete.

FDP-Politiker Benjamin Strasser: „Massiv bedenklich“

Kritiker empfinden dieses Gesetz als Schande für den Rechtsstaat. Sie nennen das bayerische PAG deshalb „Unendlichkeitshaft“. So auch Benjamin Strasser (FDP). Der Sicherheitsexperte sitzt für seinen Wahlkreis Ravensburg im Bundestag und sagt: „Wo immer Menschen in Haft genommen werden – ohne Urteil und ohne nachgewiesene Straftat – ist das massiv bedenklich.“

Benjamin Strasser (FDP)
Benjamin Strasser (FDP) | Bild: Tanja Ruetz

Strasser hat die Einführung der erneuerten Präventivhaft verfolgt. Nach dem verheerenden Terroranschlag hätte es in der gesamten Bevölkerung breite Zustimmung für den Ausbau der Kompetenzen bei der Polizei gegeben – auch in Baden-Württemberg.

„In der grün-schwarzen Landesregierung gab es aufgrund der Initiative von Innenminister Strobl ähnliche Debatten. Ich bin aber froh, dass es bei uns auch aufgrund des Drucks der FDP nicht so weit kam“, sagt Strasser.

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In Bayern ist es passiert. Dort habe man die Stimmung im Land ausgenutzt. „Es hieß damals, dass man die Präventivhaft nur bei Terrorgefahr einsetzen will. Jetzt sehen wir aber genau das Gegenteil. Es geht ganz oft um Kleinkriminelle oder mögliche Körperverletzungen. Das Gesetz wird in einem Bereich angewendet, für das es nicht vorgesehen ist. Diese Methode ist ein typischer Taschenspielertrick unionsgeführter Innenpolitk“, sagt Strasser.

Der Bundestagsabgeordnete findet es besonders schlimm, dass die Inhaftierten kein Recht auf einen Verteidiger haben. „Das geht gar nicht. Faktisch ist es doch so, dass Menschen, die als Beschuldigte in Untersuchungshaft sitzen dann mehr Rechte haben, als jemand, der nachweislich noch gar nichts getan hat. Das ist verfassungswidrig“, kritisiert der 33-Jährige im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Seine Partei hat deshalb eine Klage beim Verfassungsgericht eingeleitet. Ein Urteil steht noch aus.