Herr Gerhold, müssen wir uns darauf einstellen, in zehn Jahren keine Privatsphäre mehr zu haben?
So weit wird es hoffentlich nicht kommen.
Aber wir reden doch heute schon vom „Gläsernen Menschen“.
Das stimmt schon. Sicherheitstechnik birgt natürlich auch Gefahren.
Welche?
Sie kann eines Tages Folgen haben, die nicht beabsichtigt waren.
Was meinen Sie damit genau?
Die Sicherheitsbehörden nutzen schon heute technische Systeme, deren Algorithmen sie nicht nachvollziehen können. In vielen Fällen stellen Privatunternehmen diese Technik zur Verfügung und der Algorithmus ist Teil des Geschäftsgeheimnisses. Wir nutzen sie nur.
Können sie dafür ein Beispiel nennen?
In Baden-Württemberg wurde einmal „Pre-Cops“ getestet. Im Endeffekt ist es eine Art Datenbank, in der Wohnungseinbrüche erfasst werden. Daraus leitet das System auf Basis des sogenannten Near-Repeat Phänomens ab, an welchen Orten Straftaten zu einer bestimmten Zeit wahrscheinlich verübt werden könnten. Die Polizei entscheidet auf dieser Grundlage, ob sie dann dort das Personal erhöht oder nicht.
Bis hierhin ist noch alles in Ordnung.
Problematisch wird es aber dann, wenn aus der Assistenz eine Automatisierung wird – Entscheider den Vorschlag der Technik also nicht mehr hinterfragen. Bedeutet: Die Polizei muss auch in Zukunft selbst entscheiden, wo sie Einsätze fährt und nicht blind auf die Technik vertrauen.
Entwickelt sich da etwas in eine ganz falsche Richtung?
Es ist wichtig, die Richtung zu diskutieren. Ursprünglich wurde Gesichtserkennung entwickelt, damit sie uns dabei hilft, potentielle Terroristen ausfindig zu machen. Heute nutzen wir sie aber auch in anderen Deliktfeldern. Das ist erst einmal unproblematisch. Aber es muss zwingend jedes Mal hinterfragt werden: Macht das wirklich Sinn? Denn das ist nicht immer der Fall.

Wenn wir jeden Taschendieb, jeden Einbrecher plötzlich nicht mehr zum Bahnhof lassen, weil er in der Vergangenheit eine Straftat begangen hat, gehen wir zu weit. Dazu verleitet die Technik.
Wird das heute schon gemacht?
In einigen Bundesländern ist es heute schon erlaubt bei einer drohenden Gefahr Menschen vorausschauend in Gewahrsam zu nehmen. Wollen wir es als Gesellschaft wirklich akzeptieren, dass Algorithmen darüber entscheiden, ob jemand vorübergehend hinter Gitter kommt? Das muss man diskutieren. In Zukunft wird noch viel mehr möglich sein. Diese Entwicklungen muss man beobachten und wissenschaftlich begleiten.
Wie wird sich die Überwachung an öffentlichen Orten verändern?
Die Zukunft der Überwachung ist nicht mehr die klassische Kamera an der Hauswand. Wir reden vielmehr von Bodykameras und Drohnen, die eine flexiblere und Anlassbezogene Erfassung der Realität ermöglichen sollen. Millionen Menschen nutzen ihre eigenen Kameras etwa an Smartphones. Dadurch werden viele Ereignisse durch Privatpersonen erfasst und dokumentiert. Die entscheidende Frage wird sein, wie und ob man diese zu Aufklärungszwecken nutzen wird.
Gäbe es Sicherheitstechnik, auf die wir bewusst verzichten?
Die gibt es.
Warum nutzen wir sie nicht?
Weil das Grundgesetz und unsere Werte vieles verhindert. Und das ist auch richtig so.
Also sind unsere Werte der Gegenspieler von Sicherheitstechnologie?
Nein. Werte sind eher Ausdruck von unserer Sicherheitskultur. Die ist nicht starr, sondern wandelbar. Die Forschung und der Einsatz von Sicherheitstechnik ist also der Ausdruck vom Wandel in der Gesellschaft.
Das müssen Sie erklären.
Unsere Sicherheitskultur wird von drei Faktoren beeinflusst. Faktor eins: Wie definieren wir Unsicherheit? Was nehmen wir als Bedrohung wahr, was nicht? Das ist für jeden etwas anderes. Und jede Erosion, jedes Ereignis, jeder Terroranschlag, jeder Missbrauchsfall beeinflusst unser Sicherheitsgefühl. Faktor zwei: Medienaufmerksamkeit. Sobald Medien über eine bestimmte Sachlage berichten, rückt diese mehr in das Bewusstsein und beeinflusst das Sicherheitsgefühl. Und Faktor drei: Versicherheitlichung. Das ist die politische Ebene. Wenn Politiker ein Thema als sicherheitsrelevant ausrufen, nehmen wir diesen Bereich mehr wahr. Alle Faktoren beeinflussen in welcher Sicherheitskultur wir leben. Die Kernfrage ist: Wie sicher wollen wir leben und welche Freiheiten geben wir dafür auf.
Wie schaffen wir es eine ausgewogene Sicherheitskultur zu kreieren?
Man muss sich klar machen: Auch in Zukunft wird es die absolute Sicherheit nicht geben. Und: Die Dinge, vor denen wir uns fürchten, sind eigentlich ungefährlich. Es klingt simpel – aber der Weg zum Flughafen ist gefährlicher als der Flug selbst.
Das ist schwierig zu verinnerlichen.
Ja. Entscheidend ist, dass wir als Gesellschaft miteinander sprechen, diskutieren und wenn nötig auch streiten.
Wenn wir im Diskurs feststellen, dass wir mehr Sicherheit wollen, wird es aber irgendwann gefährlich, oder?
Diese Option besteht immer. Das Einzige was uns davor schützt, ist eine besonnene, faktenbasierte, rationale Debatte. Ohne Angstmacherei und Hysterie. Sonst tappen wir in die Sicherheitsfalle und rüsten auf bis zum geht nicht mehr.
Mit welchen Fragen werden wir uns in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen?
Das ist natürlich viel Spekulation. Sicher ist, dass uns die Gefahren der Digitalisierung und der Klimawandel fordern werden. Auch Künstliche Intelligenz wird eine wichtige Rolle in der Sicherheitswelt spielen. Für mich ist entscheidend, wie wir mit diesen Fragen umgehen und in welche Richtung sich unsere Sicherheitskultur entwickelt. Es bleibt spannend.
Sie arbeiten für das „Forschungsforum Sicherheit“ in Berlin. Was machen Sie da?
Im Forschungsforum simulieren wir in unserem Zukunftslabor in Berlin Mitte die Sicherheit der Zukunft. Wir testen sie und reden darüber, ob sie der Gesellschaft gut tut. Zuerst sammeln wir Forschungsergebnisse aus ganz Deutschland, wie zum Beispiel eine virtuelle Übungsumgebung für Einsatzkräfte, ein virtueller U-Bahnschacht, in dem Stickoxide gemessen werden können, oder Gesichtserkennungssysteme, die uns auf große Distanz erfassen können.
Alle Systeme sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Einsatz. Dann laden wir Abgeordnete des Bundestags und Vertreter von Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ein und stellen ihnen die neuen Technologien vor. Wichtig: Wir machen es für alle verständlich. Und im Anschluss gehen wir in die Debatte.
Woher kommen die Forschungserkenntnisse?
Wir forschen teilweise selbst. Der Großteil kommt jedoch aus geförderten Forschungsprojekten, die in der Regel vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert werden. Wir schauen aber auch, was andere Länder machen. Aber für uns ist relevant, was hierzulande umgesetzt werden könnte.
Gibt es Forschungsergebnisse, die Sie bewusst nicht öffentlich machen, um Ängste in der Gesellschaft zu vermeiden?
Diese Debatte haben wir tatsächlich geführt. Ich bin aber ein Verfechter davon, alles transparent zu machen. Denn wir unterschätzen die Leistungsfähigkeit der Bevölkerung im Hinblick auf die Bewertung unserer Erkenntnisse.
Wir konzentrieren uns auf Terrorismus, Extremismus, Pandemien. Gibt es Sicherheitsbereiche, die wir maßlos unterschätzen?
Diese Frage ist leicht zu beantworten. Da müssen wir uns nur die Risikoforschung der letzten 30 Jahre anschauen: Woran sterben die meisten Menschen? Es sind Krankheiten. Wenn wir sicherer leben wollen, sollten wir aufhören zu Rauchen, uns gesund ernähren und Sport treiben.