Zwei Männer verlieren innerhalb einer Woche im Süden Baden-Württembergs durch Polizeischüsse ihr Leben. Der eine, ein 64-Jähriger, soll mit einer Axt auf ein Auto eingeschlagen haben, in dem sich ein Mädchen befand. Als eine Polizeistreife eintrifft, soll er diese attackiert haben. Eine Polizistin wird verletzt.
Eine Woche vorher: Ein anderer Mann richtet in Schramberg eine Schreckschusswaffe auf Beamte – und drückt ab. Er war zuvor aus einer Fachklinik entflohen. Beide Male greifen Polizisten zur Dienstwaffe. Beide Male endet der Einsatz tödlich. Ist das Zufall? Oder ein Anzeichen dafür, dass Polizeikräfte heute schneller schießen als früher?
Polizeichef: „Deeskalation hat Vorrang“
„Dass es nun im April diesen Jahres im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Konstanz zu gleich zwei tödlichen Schusswaffeneinsätzen kam ist eine absolut ungewöhnliche Häufung, markiert für sich gesehen aber keine Entwicklung und ist auch kein Beleg dafür, dass die Polizei heute schneller als früher zur Schusswaffe greift “, sagt Polizeipräsident Uwe Stürmer gegenüber dem SÜDKURIER. Stürmer leitet die Präsidien in Konstanz und in Ravensburg.

Der Vorwurf einer Strategie „Neutralisieren statt Deeskalieren“, wie er schnell in sozialen Medien verbreitet wurde, sei „völlig deplatziert“. Vorrangiges Ziel sei immer, wo es möglich ist: „Deeskalation und Vermeidung von Gewalt.“ Schüsse auf Menschen seien die absolute Ausnahme. In den meisten Fällen setzen Polizisten ihre Schusswaffe gegen gefährliche, kranke oder verletzte Tiere ein – oft nach Wildunfällen.
Tote durch Polizeischüsse: Höchststand seit 1991
Laut Innenministerium gab es allerdings 2024 in Baden-Württemberg 13 Schusswaffeneinsätze gegen Personen, drei endeten tödlich – in Tauberbischofsheim, Oberkirch und Mannheim. 2023 waren es zwei, 2022 und 2021 je einer. 2020 waren es drei Opfer.
Bundesweit stieg die Zahl der tödlichen Polizeischüsse jedoch deutlich: Laut Statista wurden 2024 22 Menschen durch Polizeikugeln getötet – der höchste Stand seit Beginn der Erhebung im Jahr 1991. In den meisten Fällen befanden sich die Opfer zuvor in einer psychischen Ausnahmesituation oder waren wegen psychischer Erkrankungen in Behandlung.
Kann die Polizei nur Eskalation?
Polizeiwissenschaftler Rafael Behr, langjähriger Professor an der Akademie der Polizei Hamburg, kritisierte in einem Interview mit tagesschau24, dass in der Ausbildung vieler Polizeikräfte nur das „Worst-Case-Szenario“ trainiert werde – also der Angriff mit Tötungsabsicht im Nahbereich. Der Umgang mit psychisch Kranken werde zu selten geübt, vor allem praktisch.
Ein Vorwurf, den Stürmer scharf zurückweist: „In Baden-Württemberg hat das Einsatztraining hohe Priorität.“ Ganz sicher trainiere man nicht nur „Worst-Case-Szenarien“. Sowohl in der Aus- und Fortbildung als auch im Einsatztraining übe man Einsätze mit psychisch auffälligen Menschen regelmäßig und praxisnah. In den Polizeipräsidien Konstanz und Ravensburg gebe es laut Stürmer rund 25 Vollzeit-Einsatztrainer.
Gewalt werde nur nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angewandt und auch nur nur dann, wenn andere Möglichkeiten zur Konfliktlösung ausgeschöpft seien. Die Polizisten seien hervorragend ausgebildet. Mehrmals im Jahr üben sie Einsatzszenarien in speziellen Trainingsstätten. „Dabei werden alle Eskalationsstufen gelernt und praktisch geübt.“
Schuss nur letztes Mittel
Stürmer stellt aber auch klar: Auch bei noch so intensivem Training werden sich solche Fälle nie ganz vermeiden lassen. „Auch psychisch Kranke können mit entsprechender Bewaffnung wie einem Messer oder einer Axt zu einer lebensgefährlichen, und mitunter völlig unberechenbaren, Bedrohung werden. „
Wenn das Gegenüber sich in einem psychischen Ausnahmezustand befinde, stoße verbale Deeskalation an ihre Grenzen. „Wenn unsere Beamten angegriffen werden und für sie selbst oder für Dritte unmittelbare Gefahren für Leib oder Leben drohen, bleibt eben manchmal – und zwar ausschließlich als Ultima Ratio – kein anderes Mittel als der Einsatz der Schusswaffe.“
Was bringen Taser?
Die Deutsche Polizeigewerkschaft fordert unterdessen mehr Spielraum für den Streifendienst. Der Vorsitzende Ralf Kusterer sagte gegenüber der dpa, dass der Taser in manchen Fällen helfen könnte. Im Streifendienst in Baden-Württemberg stehe er aber nicht zur Verfügung.
Dabei sei die Gewaltkriminalität auf dem höchsten Stand seit Jahren, Gewalt gegen Einsatzkräfte nehme immer weiter zu. Taser sind Pistolen, die Pfeilelektroden abschießen. Diese bohren sich in den Körper des Gegners und legen seine Muskeln lahm.

Stürmer fordert keine flächendeckenden Taser. Sicherlich gebe es Situationen, in denen ein Taser hilfreich sein könne. „Als Standardausrüstung“ am Gürtel jedes Poliziebeamten erscheint er Stürmer aber fraglich. „Der Platz am Gürtel ist endlich.“ Die Ausrüstung sei auf einem guten Stand. Aber auch er stellt fest: Konflikte eskalierten heute schneller und oft extremer als früher – nicht nur mit der Polizei, sondern in der gesamten Gesellschaft.
Er „ziehe jedenfalls den Hut“ vor den Menschen im Streifendienst, die gefährliche Situationen meist ohne Gewalt meistern. In unzähligen Fällen gelinge es ja auch, bewaffnete Täter unverletzt festzunehmen. „Und ich bin mir sicher, dass jede Kollegin und jeder Kollege froh ist, wenn er nicht von der Schusswaffe Gebrauch machen muss.“